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Chemische Gewalt setzt Demenzkranke außer Gefecht

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Chemische Gewalt setzt Demenzkranke außer Gefecht

Die Behandlung Demenzkranker ist arbeitsintensiv und teuer. Viele Pflegeheime verabreichen den Patienten starke Medikamente, gefördert von Pharmafirmen.


Von Anette Dowideit

Herr Moser macht viel zu viel Arbeit. Das haben die Pfleger im Altenheim seinen Verwandten schon häufig gesagt. Anstatt zu schlafen, laufe er nachts über die Gänge, meist mit einem Urinfleck in der Hose. Er halte laute Monologe und wecke seine Zimmernachbarn. Tagsüber bedränge er häufiger die weiblichen Bewohnerinnen der Station, manchmal auch die Pflegerinnen, mit sexuellen Anspielungen. Herr Moser brauchte eigentlich einen Pfleger nur für sich, der rund um die Uhr für ihn da ist, ihm die Hosen wechselt, mit ihm spazieren geht.

Seit dem vergangenen Spätsommer ist etwas anders mit dem alten Mann, der in einem Heim einer großen Pflegekette lebt. Seither wechselt sein Zustand von einem Tag auf den anderen. Wie alle Betroffenen in diesem Text heißt Herr Moser in Wirklichkeit anders.

„Wenn wir meinen Vater besuchen, guckt er oft nur noch durch mich durch“, sagt seine Tochter. Er hänge apathisch in seinem Rollstuhl, die Arme schwer und leblos wie die einer Puppe, mit hängendem Unterkiefer. Selbst wenn man an seinen Schultern rüttle, reagiere er nicht.

Als sein Enkel, selbst Altenpfleger, den Großvater zum ersten Mal in diesem Zustand sah, sagte er zu seiner Mutter: „Der Opa ist mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt.“ Auf die Frage, was sie ihm gegeben habe, sagte die diensthabende Pflegerin: „Der ist nur müde. Nachts schläft er ja nicht, irgendwann holt sich der Körper eben den Schlaf.“

Demenzkranke sind die idealen Opfer

Endgültig hellhörig wurden die Verwandten, als das Heim ankündigte, für den alten Herrn Moser die höchste Pflegestufe beantragen zu wollen, Stufe 3. Schließlich könne er gar nichts mehr allein machen.

Demenzkranke Altenheimbewohner sind die idealen Opfer. Zu schwach, um sich zu wehren, zu verwirrt, um von unabhängigen Dritten ernst genommen zu werden, wenn sie sich beschweren. Die Angehörigen oft zu weit weg, zu beschäftigt, um sich für sie einzusetzen. Ein Rohstoff, aus dem sich im deutschen Pflegesystem mit illegalen Methoden Geld abschöpfen lässt.

Zum Beispiel indem man demenzkranken Heimbewohnern reihenweise starke Psychopharmaka verabreicht und sie damit so ruhigstellt, dass weniger Personal für ihre Pflege gebraucht wird. Davon profitiert auch die Pharmaindustrie.

Das Zentrum für Sozialpolitik an der Universität Bremen hat für die „Welt am Sonntag“ berechnet, dass in Deutschland knapp 240.000 Demenzkranke zu Unrecht mit Psychopharmaka behandelt werden.

„In diesen Fällen werden die Medikamente nicht verschrieben, um die Leiden der Patienten zu mindern oder ihre Krankheiten wirksam zu behandeln, sondern um Personal einzusparen und den Heimbetreibern höhere Gewinne zu bescheren“, sagt Professor Gerd Glaeske, der sich seit Jahren mit dem Thema beschäftigt. „Wir haben hier ein flächendeckendes Problem.“

Von den bundesweit 1,1 Millionen Demenzpatienten würden knapp 360.000 mit Neuroleptika behandelt. Studien im Auftrag des britischen Department of Health hätten ergeben, dass in zwei von drei Fällen die Medikamente zu Unrecht verordnet wurden und sich durch eine bessere Betreuung der Betroffenen hätten vermeiden lassen. Die Zahlen ließen sich problemlos auf Deutschland übertragen.

Glaeske ist ein Mann klarer Worte. Das Ruhigstellen mit Medikamenten nennt er „chemische Gewalt“. Andere Wissenschaftler sprechen von „medikamentöser Fixierung“: Ob man den Alten mit einem Gurt am Bett festbinde oder ihn mit Drogen dazu bringe, dass er sich nicht mehr bewege und still sei, mache keinen Unterschied. Der Bonner Professor für Psychiatrie und Gerontologie Rolf D. Hirsch, der sich intensiv mit dem Problem der Gewalt gegen alte Menschen beschäftigt, bestätigt: „Das Problem, dass es in vielen Heimen eine bundesweite Übermedikation mit Psychopharmaka gibt, kennen wir seit Jahren.“

Leichtes Spiel für Betrüger

Kaum öffentlich bekannt ist dagegen, dass einige Heime offenbar die Senioren gezielt mit Medikamenten behandeln, um doppelt abzukassieren: Erst verabreichen sie Psychopharmaka und sparen am Personalaufwand. Dann beantragen sie beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK), den Senior – der nun ein echter Pflegefall ist – in eine höhere Pflegestufe einzuordnen.

Pro Jahr und Patient geht es dabei um mehrere Tausend Euro. So bezahlt beispielsweise im Berliner Heim einer bundesweiten Kette ein Bewohner in Pflegestufe 2 pro Monat 1755 Euro, viele erhalten dabei Unterstützung vom Sozialamt. Zusätzlich zahlt die Kasse maximal 1279 Euro, macht 3034 Euro pro Monat. In Pflegestufe 3 dagegen zahlen Bewohner oder Sozialamt 1860 Euro, dazu kommen bis zu 1550 Euro Kassenzuschuss, macht zusammen 3410 Euro Einnahmen fürs Heim.

Eine Differenz von fast 400 Euro, von der das Heim zusätzliche Pfleger einstellen müsste. Doch die existieren in der Realität oft nicht. Sie werden ja auch nicht gebraucht, wenn der Demente unter Drogeneinfluss weniger Arbeit macht. „Solche Fälle gibt es immer wieder“, sagt Psychiater Hirsch, dessen Verein „Handeln statt Misshandeln“ Pflegebedürftige und ihre Angehörigen über ein Notruftelefon berät.

Die Prüfer des MDK hinterfragten bei den Begutachtungsterminen den Umgang mit Beruhigungsmitteln kaum, sagt er. Wenn im Dokumentationsbogen kein solches Medikament auftauche, dann glaube der MDK das eben. „Wer betrügen will, für den ist es kein Problem“, sagt Hirsch.

Ob Patienten ruhiggestellt werden, hängt vom diensthabenden Pfleger ab. Die Verantwortlichen setzen laut Experten auf die Unwissenheit der Angehörigen. Ein Demenzkranker hat in der Regel einen rechtlichen Betreuer, meist Ehepartner oder Kind, der alle Entscheidungen trifft und die Verantwortung trägt. Über jedes verschreibungspflichtige Medikament muss der Betreuer aufgeklärt werden.

Tatsächlich geschehe das oft nicht, sagt Heimrechtsexperte Thomas Klie von der Evangelischen Hochschule Freiburg. Der Jurist drückt es so aus: „Es herrscht eine große Diskrepanz zwischen Rechtsnorm und Praxis.“

Das Ruhigstellen ohne Genehmigung ist nicht nur ungesetzlich, sondern auch gefährlich. Mehrere Studien belegen, dass Neuroleptika, eine Gruppe innerhalb der Psychopharmaka, die besonders dämpfend wirken, bei Dementen Herzinfarkte, schwerwiegende Infektionen wie Lungenentzündungen oder Schlaganfälle hervorrufen können.

Die US-Gesundheitsbehörde FDA warnte vor sechs Jahren, dass ältere Demenzkranke, die Neuroleptika einnahmen, eine deutlich höhere Sterblichkeitsrate aufwiesen als eine Kontrollgruppe. Dennoch werden die Mittel oft über lange Zeiträume und ohne regelmäßige ärztliche Überwachung verabreicht. Dabei sind Neuroleptika vor allem für die Behandlung akuter Psychosen geeignet.

Natürlich gibt es auch Demenzkranke, denen Psychopharmaka helfen, etwa weil die Betroffenen gleichzeitig an Depressionen leiden und so von ihren Angstzuständen befreit werden. Doch bei vielen Patienten sind die Risiken weit größer als der Nutzen.

Die Zahl der Ruhiggestellten steigt unaufhaltsam. Weil die Menschen in Deutschland immer älter werden und sich das Budget der Pflegeversicherung damit auf immer mehr Köpfe verteilen muss, steigt der Anteil der über 90-Jährigen in den Heimen. Bei ihnen wiederum ist die Wahrscheinlichkeit einer Demenzerkrankung weit höher als bei jüngeren.

Laut Studien des Bremer Forschungsteams um Glaeske sind etwa 60 Prozent der rund 400.000 Heimbewohner in Deutschland dement. Mit ihrer Zahl steigen auch die Ausgaben. „Ein Demenzpatient, richtig therapiert und von genügend Fachpersonal versorgt, würde das deutsche Gesundheitssystem 45.000 Euro pro Jahr kosten“, sagt Glaeske.

Hinter diesen Zahlen stehen menschliche Dramen. Zum Beispiel das von Frau W. und ihrer Mutter. Die Tochter hat mehr als ein Jahrzehnt lang die Krankengeschichte ihrer Mutter dokumentiert. Zu ihrem Archiv gehört eine zweiseitige, klein gedruckte Liste, auf der steht, welche Medikamente ihre Mutter fünf Jahre lang bekommen hat.

Die Aufzählung liest sich wie die Inhaltsangabe des Medikamentenschranks für eine ganze Krankenstation: Über den Zeitraum von drei Jahren bekam die Mutter 35 verschiedene Mittel, davon 30-mal Psychopharmaka, mehr als ein Dutzend verschiedene Präparate. Frau W. erinnert sich noch gut daran, wie sie eine Pflegerin im Heim vor ein paar Jahren fragte, warum dort so viele Psychopharmaka verschrieben würden. Die Antwort: „Na, in erster Linie natürlich, um uns die Arbeit zu erleichtern, und in zweiter Linie, um Ruhe auf der Station herzustellen.“

Pfleger sind restlos überfordert

Wenn man Einblick über die Behandlungspraxis in manchen Heimen und Krankenstationen bekommen will, sind Internetforen wie Krankenschwester.de oder Pflegeboard.de hilfreich – auch wenn sie nicht repräsentativ sind. User „Anne77“ schreibt: „Zur Zeit stellen unsere Ärzte renitente Patienten mit Paracefan ruhig. Für mich ehrlich gesagt erleichternd, da ich nun keinen Fluchtversuch befürchten muss sowie Handgreiflichkeiten. (…) Wie ist das bei euch? Medikamentös ruhigstellen oder eher Fixierung?“

Ein Nutzer antwortet, in seinem Haus werde die Ruhigstellung (Sedierung) stets mit einer Fixierung des Patienten in seinem Bett kombiniert. In einem anderen Beitrag fragt Nutzer „Patmuc“: „Gibt es noch den Cocktail aus Dipi und Haldol, der jeden Nachtdienst froh macht?“ Eine Nutzerin antwortet: „In dem Altenheim, wo ich war, hieß das Zauberwort Tavor.“

Im klammen deutschen Gesundheitswesen ist die Personaldecke vieler Heime auf Kante genäht. Der Altenpflegejob zerrt an den Nerven. Laut einer Studie sind 42 Prozent aller Pfleger mehrmals am Tag mit „herausforderndem Verhalten“ der Pflegebedürftigen konfrontiert. Um sich zu helfen, verabreichten manche Pfleger Beruhigungsmittel ohne Verschreibung, erklärt Professor Hirsch.

Sie gäben den Senioren zum Beispiel Pillen, die von Verstorbenen übrig sind, und dokumentierten dies nicht in der Patientenakte. Viel häufiger aber rufen sie den Hausarzt oder Neurologen, schildern ihm ihre Sicht der Lage – dass Herr Schmitz unter schlimmen Angstzuständen leidet oder Frau Müller nachts einfach nicht zur Ruhe kommt – und lassen den Heimbewohnern immer neue Mittel verschreiben.

In Mönchengladbach veröffentlichte die städtische Sozial Holding, die sechs Heime betreibt, im Herbst 2011 eine Studie, die in der Branche für Aufsehen gesorgt hat. Demnach bekamen die 617 Bewohner in einem Monat zusammen Medikamente für 5000 Euro verschrieben, die für ältere Patienten als bedenklich gelten. Im Durchschnitt bekamen die Bewohner mehr als acht verschiedene Mittel täglich, besonders oft Psychopharmaka.

Eine wahnwitzige Verschwendung der Pflegekassen sei das, sagt der Geschäftsführer der Sozial Holding, Helmut Wallrafen-Dreisow: „Es kann doch nicht sein, dass wir seit Jahrzehnten für eine Verbesserung der Personalschlüssel kämpfen und auf der anderen Seite sinnlose, kostenintensive und teilweise gesundheitsgefährdende Medikamente verordnet und verabreicht werden.“ Für ihn sind letztlich die Kassen verantwortlich, die Verschreibungen kaum kontrollierten.

Auch Sozialforscher Glaeske kritisiert die mangelnde Kontrolle: „Die Pfleger müssen von den überlasteten Pflegekassen bezahlt werden, die Medikamente dagegen von den Krankenkassen. Die massenhafte Sedierung ist letztendlich eine Kostenverschiebung von einem Sozialsystem ins andere.“ Die Hauptverantwortung liege jedoch bei den in den Heimen behandelnden Ärzten.

Der Wissenschaftler spricht von einer „verhängnisvollen Komplizenschaft“. „Die Ärzte sehen die Not der Pfleger, manchmal auch die der Angehörigen, die mit dem eigenen Vater nicht mehr fertig werden, und entwickeln daraus eine Legitimation für ihr Handeln.“ Gerade in ländlichen Gegenden mit Ärztemangel ist oft ein Neurologe für alle Altenheime im Landkreis zuständig.

Das kann sich für den Arzt lohnen: In einem Pflegeheim sitzen viele Patienten auf einem Fleck, man kann in kurzer Zeit viele Menschen behandeln und bei der Kasse abrechnen. Wer sich mit dem Heimpersonal gut stellt, wird beim nächsten Mal wieder angerufen.

Das offenbart eine Schwachstelle im deutschen Gesundheitssystem: Ärzten, die Psychopharmaka als Gefälligkeit für das Heim massenweise verschreiben, das Handwerk zu legen ist fast unmöglich.

Das erzählt der Leiter einer Heimaufsicht in Süddeutschland, der anonym bleiben will: „Ich habe schon einige Male versucht, gegen Ärzte vorzugehen, weil sie für die falsche Indikation Psychopharmaka verschrieben haben – ganz offensichtlich, um dem Heim einen Gefallen zu tun. Das Problem ist: Wir von der Heimaufsicht haben selbst keine Handhabe gegen sie.“ Die Kontrolle von Ärzten, erklärt er, obliege dem Gesundheitsamt. „Aber versuchen Sie mal, da einen Amtsarzt zu finden, der einen Berufskollegen abmahnt. Bei den Ärzten gilt: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.“

Frau Stevens singt, textsicher, Heino. „Sie war das allerschönste Kind, das man in Polen find, aber nein, aber nein, sprach sie, ich küsse nie.“ In ihrer Hand wiegt sie im Takt eine gläserne Teetasse, zwischendurch tuschelt sie mit ihrer Tochter, die neben ihr sitzt. Frau Stevens lächelt viel an diesem Tag. Am Schluss klatscht sie im Takt in die Hände. „Wir machen durch bis morgen früh und singen Bumms-Fallera.“ Dann endet die letzte Videoaufzeichnung, die von Mathilde Stevens existiert.

Das Video wurde am 25. Oktober 2005 gedreht, und die Frau, die darauf zu sehen ist, hätte es so nicht geben dürfen. Denn nur wenige Wochen zuvor hatte ihr der MDK bescheinigt, ein kompletter Pflegefall zu sein: unfähig, sich selbst zu waschen oder selbst zu essen und zu trinken. Pflegestufe 3.

Tatsächlich war Mathilde Stevens am 26. Juli, als die Prüferin in ihr Seniorenheim kam, eine andere Frau: Die alte Dame hing an diesem Tag schief im Rollstuhl, konnte ihre Arme nicht heben oder ihren Namen nennen.

Pharmafirmen sponsern Patientenorganisationen

Ihre Tochter Frau T., die beim Begutachtungstermin dabei war, erkannte ihre Mutter nicht wieder. „Es war, als hätte jemand das Licht ausgeknipst“, sagt sie. Das habe sie der Prüferin vom MDK auch gesagt – doch die habe erwidert: „Ich glaube Ihnen, aber so, wie ich Ihre Mutter heute antreffe, kann ich gar nicht anders entscheiden, als sie in Pflegestufe 3 einzuordnen.“ Frau T. sagt, sie habe nicht anders gekonnt, als zuzustimmen.

Sie und ihre Schwester haben sich, Jahre nach dem Tod der Mutter, zu einem Treffen mit der „Welt am Sonntag“ bereit erklärt. Sie sitzen gemeinsam mit weiteren Angehörigen mittlerweile verstorbener Heimbewohner in einer Gaststätte in einem Vorort von Bremen. Organisiert hat die Zusammenkunft Frau W., die über die Medikamentengeschichte ihrer Mutter so akribisch Buch geführt hat. Die Gruppe eint der ehemalige Wohnort ihrer Mütter und Ehemänner: das Haus „Am Brunnen“ der Senioren Wohnpark Weser GmbH im niedersächsischen Stuhr-Brinkum.

Frau T. erzählt, ihre Mutter sei in den ersten Jahren im Wohnpark noch relativ fit gewesen. Eines Tages jedoch habe das Heim bei der Kasse eine höhere Pflegestufe für die Mutter beantragt – im Namen von Frau T.s Schwester, obwohl Frau T. zuständig gewesen wäre. Vom Einstufungstermin, den der MDK wenig später ansetzte, erfuhren die Schwestern zu spät. Nach einigem Hin und Her erreichte Frau T. schließlich einen zweiten Prüftermin – den, bei dem die Mutter völlig zugedröhnt gewesen sein soll.

In den Töchtern reifte ein Verdacht: Jahre zuvor hatte ihre Mutter das Beruhigungsmittel Diazepam – Laien vor allem unter dem Produktnamen Valium bekannt – verordnet bekommen, als „Bedarfsmedikation“. Bei diesen Mitteln kann der Pfleger entscheiden, wann sie gegeben werden. Zum Beispiel wenn der Patient akute Angstzustände hat. Experten wie Hirsch vermuten, dass Bedarfsmedikationen häufig zur Ruhigstellung missbraucht werden.

Frau T. sagt, sie sei sich sicher, dass ihrer Mutter vor dem MDK-Termin Diazepam verabreicht wurde. Denn bei einer anderen Gelegenheit habe eine Pflegerin zu ihr gesagt: „Wir brauchen mehr Bewohner in Pflegestufe 3, dann bekommen wir bald mehr Personal.“ Und: Der MDK stellte bei beiden Terminen zur Höherstufung fest, dass jeweils Diazepam-Zäpfchen aus Frau Stevens’ Medikamentenliste fehlten.

Obwohl solche Fälle laut Experten in Deutschland alltäglich sind, haben sie fast nie strafrechtliche Konsequenzen. Die Erfolgsaussichten sind einfach zu gering. In Berlin etwa schaltete der lokale Krankenkassenverband (heute VdeK) vor fünf Jahren die Staatsanwaltschaft ein, weil Pfleger eines Heims einer Bewohnerin absichtlich Beruhigungsmittel verabreicht haben sollen, um sie ruhigzustellen, und das Heim dann eine höhere Pflegestufe beantragte. Die Ermittlungen wurden ohne Ergebnis eingestellt.

Im Fall von Frau Stevens erreichte die Tochter bei der Heimaufsicht, dass die Pflegestufe ein drittes Mal überprüft wurde – diesmal, ohne dass sich der MDK wie sonst üblich vorher anmeldete. Das Ergebnis: Die Mutter wurde in Pflegestufe 2 zurückgestuft.

Das Haus „Am Brunnen“ und die Senioren Wohnpark Weser GmbH gehören zur Residenz-Gruppe Bremen. Der Gründer und geschäftsführende Gesellschafter Rolf Specht ist einer der bekanntesten Unternehmer in der Region und ein wichtiger Arbeitgeber.

Seine Gruppe hat rund 1100 Mitarbeiter und ist eine der 20 größten Pflegeketten Deutschlands. Im Gegensatz zu vielen anderen Pflegemanagern spricht Specht mit der Presse. Gemeinsam mit seiner Sprecherin, seinem Konzerngeschäftsführer Christian Nitsche und dem Heimleiter empfängt er die „Welt am Sonntag“ im Heim in Stuhr-Brinkum.

Dem Vorwurf im Fall von Frau Stevens widersprechen die Manager entschieden. Nitsche sagt, dass über eine Höherstufung nicht ein einzelner Begutachtungstag entscheide, sondern eine Dokumentation über mehrere Monate. Medikamente würden nie mit dem Ziel einer Höherstufung gegeben, sondern stets aus „pflegerisch oder medizinisch indizierten Gründen“.

Es gebe in der Pflege nun einmal Fälle, in denen es den Menschen in Wellenbewegungen mal schlechter gehe und dann wieder etwas besser. Daraus einen Vorwurf abzuleiten werde der Pflege in der Einrichtung nicht gerecht. Was der Geschäftsführer keinesfalls auf sich beruhen lassen will, ist der Vorwurf, die Patientin sei gezielt außer Gefecht gesetzt worden, um die Höherstufung zu erreichen.

„Ein solches Vorgehen wäre ungesetzlich und ethisch undenkbar.“ Es ergäbe auch logisch keinen Sinn: „Die dokumentierte Pflegebedürftigkeit reicht in der Regel für eine erfolgreiche Höherstufung aus. Die Schaffung strafbarkeitsrelevanter Sachverhalte mit einem großen Kreis von Mittätern und Mitwissern stehen in keinem Verhältnis zu dem hierdurch verursachten Schaden in der Reputation des Unternehmens.“

Frau T. entgegnet darauf später: Die Tatsache, dass ihrem Widerspruch stattgegeben wurde – was Dokumente belegen –, sei Beweis genug. Der MDK habe sogar die Rückstufung dringend empfohlen.

Auf die Frage, ob nicht schon das Ruhigstellen demenzkranker Bewohner mit Medikamenten allein schlimm genug sei, schütteln die drei Männer und die Pressesprecherin entschieden die Köpfe. „Bei uns kommt das nicht vor“, sagt der Heimleiter. Was verschrieben werde, liege allein in der Hand des behandelnden Arztes. Gleichwohl räumt Nitsche ein: „Dort, wo Menschen arbeiten, geschehen Fehler – es ist unsere Aufgabe, diese Beschwerden ernst zu nehmen und den erhobenen Vorwürfen nachzugehen.“

Die Liste der Mittel, die auf deutschen Demenzstationen tagtäglich in die Pillenboxen kommen, ist lang: Melperon, Pipamperon und Diazepam gehören zu den am häufigsten verschriebenen Medikamenten. Zwei Produktnamen fallen jedoch besonders häufig im Gespräch mit Pflegeexperten: Haldol und Risperidon.

Beides sind offenbar für Senioren problematische Stoffe: Anfang 2011 erstellte eine Forschergruppe der Universität Witten/Herdecke eine Liste mit einer Übersicht, auf welche Medikamente alte Menschen empfindlicher reagieren als jüngere. Die Verfasser der sogenannten Priscus-Liste wollten Ärzten eine Anleitung an die Hand geben, an der sie sich bei Verschreibungen in Altenheimen orientieren können.

Dort ist zum Beispiel zu lesen, dass der Wirkstoff Haloperidol, der in Haldol steckt, bei älteren Patienten schon in üblichen Dosierungen heftige Nebenwirkungen auslösen kann: Die sedierende Wirkung kann zu Stürzen und damit Hüftbrüchen führen, die Motorik wird stark beeinträchtigt.

Der Wirkstoff ist seit den 70er-Jahren auf dem Markt. Entwickelt hat ihn Janssen-Cilag, eine Tochter des US-Pharmakonzerns Johnson & Johnson, und laut aktuellem Arzneimittelverordnungsreport stammte fast die Hälfte aller 2010 verordneten Einheiten vom Original-Hersteller.

Noch häufiger wird heute die Nachfolgesubstanz Risperidon – Produktname Risperdal – verordnet, ebenfalls hergestellt von Janssen-Cilag. Sie ist weit teurer, soll aber Pharmakritikern zufolge keinerlei Zusatznutzen bringen. Eine tägliche Dosis Risperdal kostet die Kassen allerdings 14,14 Euro, die Tagesdosis Haldol nur 62 Cent.

Eigentlich sind beide Mittel für Schizophrene und Patienten mit schweren Psychosen entwickelt worden. Mittlerweile, behauptet ein ehemaliger Vertriebsmitarbeiter des Unternehmens im nordrhein-westfälischen Neuss, soll Janssen-Cilag aber einen großen Teil seines Haldol- und Risperdal-Umsatzes – rund 4,8 Millionen Euro insgesamt – mit pflegebedürftigen Senioren erzielen.

Das Unternehmen teilt mit, ein Pharmahersteller könne keinen Einfluss darauf nehmen, für welche Indikation ein Arzt ein Medikament verschreibe. Janssen-Cilag weise die Ärzte jedoch darauf hin, dass die Verschreibung bei Demenzkranken ein gewisses Risiko berge. Tatsächlich steht im erweiterten Beipackzettel, den Ärzte bekommen, ein Absatz mit der Überschrift „Erhöhte Mortalität bei älteren Menschen mit Demenz-Erkrankungen“.

Auch die Mutter von Frau W. bekam vor ein paar Jahren Haldol verschrieben, und die Tochter sagt heute, die Mutter wäre daran fast gestorben. „Totaler Zusammenbruch“, erinnert sie sich. Die Zahl der Patienten, deren Tod durch Psychopharmaka beschleunigt wird, kennt niemand. Im Altenheim, sagen Pharmakritiker wie der emeritierte Bremer Arzt Peter Schönhöfer, der sich bei Transparency International engagiert, werde meist nicht sehr genau auf die Todesursache geachtet. „Das gilt insbesondere, wenn der Tod als Erlösung von einem langen Leiden erscheint.“

Der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) weist für seine Mitglieder jede Verantwortung von sich. „Über den Einsatz verschreibungspflichtiger Medikamente im konkreten Einzelfall entscheidet der jeweilige Arzt. Diesen kann und darf ein Pharmaunternehmen nicht beeinflussen“, sagt vfa-Referent Rolf Hömke.

Experten bezweifeln jedoch, dass die Industrie den Einsatz von Psychopharmaka bei Demenzkranken tatsächlich so entschieden ablehnt. Kritiker Schönhöfer sagt, dass zum Beispiel Neurologen, die viele Altenheime betreuen, häufig Besuch von den Herstellern einschlägiger Psychopharmaka bekommen. „Natürlich wissen auch die Pharmavertreter, dass die Mittel zum Sedieren eingesetzt werden“, sagt er.

In der Dreiecksbeziehung Pharmavertreter, Arzt und Altenheimbetreiber werde das Phänomen schöngeredet. „Man überzeugt sich gegenseitig, dass alle Seiten vom Ruhigstellen profitieren.“ Das bestätigt auch ein Pharmareferent, der lange im Bereich geriatrischer Präparate gearbeitet hat: „Es gibt einige Ärzte, die sind in ihrem Landkreis kleine Fürsten und haben quasi ein Monopol bei den Heimen. An die wollen die Pharmafirmen natürlich ran.“

Alle medizinischen Fachbereiche, die einen hohen Anteil an alten Patienten behandeln, sind interessant für die Pharmakonzerne. Wer alt ist, schluckt viele Pillen. Laut einer Auswertung des GKV-Spitzenverbandes entfielen 2010 vom gesamten Fertigarzneimarkt 44 Prozent auf Versicherte ab 65 Jahren.

Vor einigen Monaten machte in der Ärzteschaft ein Eintrag im Internetblog Gesundheit.blogger.de die Runde, dessen anonymer Verfasser zum ersten Mal die Abhängigkeiten in der Psychiatrie unter die Lupe nahm. Anlass war die „Demenz-Leitlinie“ der beiden neuropsychiatrischen Fachgesellschaften DGPPN und DGN.

Das Papier, das Neurologen als Behandlungsanleitung dienen soll, spricht sich deutlich für Antidementiva aus – umstrittene starke Medikamente, die von der Hausärzte-Fachgesellschaft Degam kritisch beurteilt werden. Alle 68 Unterzeichner der Richtlinie gaben an, in keiner Weise von der Pharmaindustrie abhängig zu sein. Der Blogger mit dem Pseudonym Hockeystick prüfte dies mit einer einfachen Google-Suche nach.

Ergebnis: 29 der Experten hatten sich mindestens einmal von einem Pharmaunternehmen für einen Marketingauftritt bezahlen lassen, häufig sogar von Antidementiva-Herstellern.

Doch auch Patientenorganisationen seien vor Einflussnahmen nicht gefeit, sagt die Pflegewissenschaftlerin Gabriele Meyer von der Universität Witten/Herdecke. Laut einer Aufstellung des Instituts für Qualität und Transparenz von Gesundheitsinformationen (IQTG) soll beispielsweise die Deutsche Alzheimergesellschaft im Jahr 2010 für Veranstaltungen rund 42.000 Euro an Zuwendungen von der Pharmaindustrie erhalten haben. Unter den Spendern: Janssen-Cilag, Eisai, Pfizer – alles Firmen, deren Mittel in deutschen Altenpflegeheimen tagtäglich zum Einsatz kommen.

http://www.welt.de/wirtschaft/article13944535/Chemische-Gewalt-setzt-Demenzkranke-ausser-Gefecht.html

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Beatmungs-Stationen sind lukrativ und gefährlich

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Beatmungs-Stationen sind lukrativ und gefährlich

Sogenannte Beatmungs-WGs sind eines der größten Wachstumsfelder der Medizinbranche. Doch die Qualität ist teils gefährlich schlecht. In Köln wird wegen fahrlässiger Tötung gegen Pfleger ermittelt.

Ein Patient wird

Von Anette Dowideit

Wenn sich in Köln das Kriminalkommissariat 11 der Polizei mit einem Fall beschäftigt, dann geht es um Kapitalverbrechen, Mord oder Totschlag. Die meisten Fälle spielen sich im Drogenmilieu ab oder sind Beziehungstaten. Seit rund drei Wochen ermitteln die Beamten jedoch nach Informationen von “Welt Online” in einem ungewöhnlichen Fall.

Im Zentrum der Ermittlungen stehen mehrere Mitarbeiter eines ambulanten Pflegedienstes. In der sogenannten Beatmungs-WG, in der die Pfleger arbeiten, starb Mitte Februar eine 44-jährige Frau. Der Anfangsverdacht der Staatsanwaltschaft lautet auf fahrlässige Tötung, wie die Staatsanwaltschaft bestätigte.

Schlaglicht auf die gesamte Branche

Der Fall wirft ein Schlaglicht auf die Branche der Pflegedienste (Link: http://www.welt.de/13944535) , genauer gesagt, auf die Beatmungs-Stationen, die momentan eines der größten Wachstumssegmente der Branche sind. Alle paar Wochen öffnet bundesweit eine neue Station, manche davon angeschlossen an Krankenhäuser, andere als “Wohngemeinschaften” (WG), die von ambulanten Pflegediensten organisiert werden.

Der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) in Berlin schätzt, dass bundesweit rund 600 ambulante Pflegedienste Intensivpflege betreiben, zu der häufig die Langzeitbeatmung gehört. Das wären fast doppelt so viele wie noch vor fünf Jahren.

Das Geschäftsmodell der Stationen besteht darin, Menschen, die aus eigener Kraft nicht mehr atmen können, dauerhaft zu versorgen, nachdem sie aus den Intensivstationen der Krankenhäuser entlassen worden sind.

Mal liegen solche Patienten nach einer schweren Schädel-Hirn-Verletzung im Wachkoma, mal befinden sie sich im fortgeschrittenen Stadium einer schweren Lungenerkrankung. Gemeinsam haben die Patienten, dass ihre Genesungsprognose schlecht ist. Wer in einer Beatmungs-Station einzieht, wird sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr verlassen.

Lukratives Geschäft

Das Geschäft ist lukrativ: Für die Versorgung eines Beatmungspatienten erhalten die Anbieter von den Kranken- und Pflegekassen mindestens 7000 Euro pro Monat, in vielen Fällen sind es sogar weit mehr als 10.000 Euro. Und die Zahl der Langzeitbeatmeten wächst.

Eine europaweite Befragung unter Beatmungsstationen vor einigen Jahren kam zu dem Ergebnis, dass deutschlandweit etwas über eine halbe Million Menschen außerhalb von Krankenhäusern beatmet wird. In der Branche gilt als allgemeingültiger Schätzwert, dass jedes Jahr rund 2500 neue Langzeitbeatmete dazukommen. ”

Die Zahl der Patienten hat in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen”, sagt Professor Michael Pfeifer vom Universitätsklinikum Regensburg, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie.

Das liege daran, dass immer mehr Menschen dank der stetig verbesserten medizinischen Versorgungsmöglichkeiten (Link: http://www.welt.de/13816126) mit schwersten Erkrankungen länger leben. “Wir erleben heute außerdem viele Fälle von Lungenerkrankungen bei 80- bis 90-Jährigen, die sich früher nicht entwickelt hätten, weil die Patienten dieses Alter gar nicht erst erreicht hätten.”

Riesige Qualitätsunterschiede

Das eröffnet neue Geschäftsfelder für die Anbieter von Beatmungsdienstleistungen. Auf dem Markt mischen kleine ambulante Dienste ebenso mit wie der international agierende Dax -Konzern Linde. Doch die Qualitätsunterschiede in der Branche sind riesig.

Nach dem Todesfall bleibt die Kölner Beatmungseinrichtung der “D. Hamacher GmbH und Co. KG” bis auf weiteres geschlossen. Der Kölner Fall ist nicht der erste, in dem sich die Aufsichtsbehörden einschalten mussten.

Im nordrhein-westfälischen Herne stoppte die Stadtverwaltung Ende 2010 eine “Beatmungs-WG”. In solchen Einrichtungen, in denen manchmal drei, manchmal sieben Patienten leben, sind die Beatmeten offiziell Mieter einer Wohnung. Den ambulanten Pflegedienst, der sie rund um die Uhr betreut, beauftragen sie unabhängig von ihrem Mietverhältnis.

Weniger Kontrolle

Dieses Konstrukt hat für die Betreiber den Vorteil, dass sie weniger kontrolliert werden als ein gewöhnliches Pflegeheim, in das regelmäßig die staatliche Heimaufsicht kommt. Auch gesetzliche Vorgaben wie die vorgeschriebene Fachkraftquote von 50 Prozent – jeder zweite Pfleger in einem Heim muss demnach examinierter Alten- oder Krankenpfleger sein – umgehen solche WGs.

Auch im Kölner Fall, teilte die Heimaufsicht auf Anfrage mit, habe sie keine Handhabe gehabt, die Einrichtung zu kontrollieren. Das galt sogar noch nach dem Todesfall. Lediglich die Pflegekassen, von denen die Einrichtungen finanziert werden, dürfen dort nach dem Rechten schauen.

Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) in Bayern hat sich mit dem Thema Beatmungs-WGs ausführlich beschäftigt. Er schätzt, dass in einem Viertel aller Einrichtungen “deutliche Mängel” bestehen.

Die Kranken- und Pflegekassen schließen trotzdem mit immer weiteren Beatmungs-WGs Verträge ab, was unter anderem daran liegen dürfte, dass sie mit Tagessätzen um die 240 Euro oft weit günstiger sind als zum Beispiel an Krankenhäuser angeschlossene Beatmungs-Stationen.

Eklatante Mängel

Die Schwester eines ehemaligen Bewohners einer solchen WG berichtet, ihr Bruder habe dort vor Monaten einen Atemaussetzer gehabt und sei blau angelaufen. Der herbeieilende Pfleger habe nicht gewusst, was zu tun sei. Letztendlich habe sie mit dem Handy den Notarzt angerufen, der dem Bruder das Leben rettete. Heute lebt der Bruder in einer stationären Beatmungsstation.

Zu eklatanten Mängeln kommt es auch immer wieder, weil viel zu wenige Pfleger für Beatmungspflege ausgebildet sind. Das gilt offenbar vor allem für Ballungsräume wie Berlin, in denen sich besonders viele Anbieter tummeln.

Stellenanzeigen wie diese gibt es in Internet-Jobportalen im Dutzend: “Für unseren Auftraggeber, eine ambulante Intensiv- und Beatmungsstation in Berlin-Treptow, suchen wir ab sofort Unterstützung. Ihr Profil: Abgeschlossene Berufsausbildung im oben genannten Bereich oder solide Erfahrungswerte.”

Eintätige Crash-Kurse

Bei der Berliner Personalagentur, die für die Anzeige verantwortlich ist, heißt es auf Nachfrage, auf solche Ausschreibungen gebe es kaum Resonanz. “Die Kunden sagen uns anfangs immer, dass sie jemanden mit Fachweiterbildung suchen, aber letztendlich nehmen sie dann doch jemanden ohne”, sagt die zuständige Vermittlerin.

Häufig werden die Altenpfleger in eintägigen Crash-Kursen zu Beatmungspflegern geschult und müssen dort innerhalb weniger Stunden lernen, wie man den Patienten notfallversorgt, wenn zum Beispiel eines der sensiblen Beatmungsgeräte ausfällt.

Mit dem Personalmangel in der Branche hat auch Peter Kalin zu kämpfen, Marketingmanager der Beatmungspflegekette Remeo. Sein Unternehmen mit Hauptsitz in Unterschleißheim bei München gehört zum Konzern Linde, der vor allem als Hersteller von Industriegasen bekannt ist. Deutschlandweit sind sechs Remeo-Beatmungszentren bereits eröffnet oder noch in Planung.

Doch in einer der Einrichtungen hat sich die Eröffnung verschoben, weil noch nicht genug Fachkräfte gefunden wurden, in anderen stünden deshalb unfreiwillig Betten leer, heißt es. “Die Suche nach qualifiziertem Personal ist an manchen Standorten schwierig”, sagt Mediziner Kalin.

“Man bräuchte eigentlich Krankenpfleger aus den Intensivstationen von Krankenhäusern, aber für viele ist der Wechsel in eine solche Pflegestation nicht sehr attraktiv. Es gibt wenig Abwechslung, die Pflege auf einer solchen Station ist nur auf ein Gebiet beschränkt, und zudem ist man auf sich selbst gestellt.”

Einige Betriebe arbeiten vorbildlich

Für den Linde-Konzern sei die Beatmung ein interessantes Wachstumsfeld, weil der Konzern durch seine Beatmungsgeräte schon Know-how auf diesem Gebiet besitzt, erklärt Kalin. Die Sparte Remeo sei für das Unternehmen eine Weiterentwicklung: Es kann auf den Stationen seine Beatmungsgeräte einsetzen und den Patienten, falls sie irgendwann nach Hause können, ebenfalls weiter betreuen.

Die Patienten auf eigenständiges Leben, möglichst zu Hause, vorzubereiten, sei bei Remeo erklärtes Ziel. Im Gegensatz zu den Beatmungs-WGs, in denen die Aufenthalte der Patienten auf Dauer angelegt seien.

Auch unter den Einrichtungen für Langzeitbeatmete, die keine Hoffnung auf Besserung haben, gibt es vorbildliche Betriebe. In einem ehemaligen Schwesternwohnheim in der Kölner Südstadt hat vor einem dreiviertel Jahr die “Beatmungspflegeeinrichtung St. Severinus” eröffnet, angeschlossen ans katholische Krankenhaus der Augustinerinnen.

22 Patientenbetten stehen dort auf zwei Etagen bereit, doch bisher ist die obere Etage noch komplett leer, kalkulierte Anlaufverluste seien das, sagt Pflegedienstleiter Hubert Andert, während er durch die Gänge führt.

Krankenhausatmosphäre im Altenheim

Der in freundlichen Pastellfarbenen gestrichene Flur, der modern eingerichtete Frühstücksraum mit bodentiefen Fenstern, alles erinnert an ein Altenheim. In den Bewohnerzimmern dagegen herrscht Krankenhausatmosphäre: Neben den Intensivbetten stehen die Beatmungsapparaturen, die einen großen Teil des Raumes einnehmen, Sauerstoffschläuche ragen aus der Wand.

Nur wenige der Besucherzimmer, durch die Andert und seine Kollegin Stephanie Armbrecht führen, sind mit eigenen Möbeln oder Bildern der Bewohner eingerichtet. Die Bewohner wollten sich nicht mit der Endgültigkeit abfinden, erklären die beiden.

Das sei auch der Grund, warum die Beatmungs-Station ihren Namen nach nur wenigen Monaten von “Beatmungspflegeheim” in “Beatmungspflegeeinrichtung” geändert hat. Dabei sind unter den Patienten, hier heißen sie Bewohner, schwere Fälle. Ein Wachkomapatient, zwei weitere, die nicht ansprechbar sind.

Andert erklärt, für die Qualität spiele der direkte Anschluss ans Krankenhaus eine große Rolle, falls es einen Notfall gebe oder zum Beispiel ein Röntgenbild gemacht werden müsse. Einen Unterschied mache auch die technische Ausstattung: In der Station gibt es computergestützte Überwachungssysteme in jedem Zimmer.

Großer Wettbewerb um Patienten

Bei manchen Beatmungs-WGs dagegen werden die Patienten überwacht, indem die Pfleger ein Babyphone neben jedes Bett stellen. Für die Krankenkassen, rechnen die beiden vor, sei der Aufenthalt eines Patienten auf der Station um zwei Drittel günstiger als eine 24-Stunden-Versorgung durch einen Pflegedienst im eigenen Heim. Einfach deshalb, weil ein Pfleger mehrere Patienten gleichzeitig überwachen könne.

Doch der Wettbewerb um die Patienten ist groß, nicht nur in Köln – gerade durch die billigeren Beatmungs-WGs. Eine Berliner Krankenhausärztin berichtet, die ambulanten Intensivpflegedienste versuchten teilweise, sich in den Krankenhäusern mit dem Pflegepersonal zu vernetzen, um auf diese Weise an neue Kunden zu kommen.

“Typisch ist, dass man einen Anruf bekommt nach dem Motto: Wir haben noch freie Kapazitäten, und wenn ihr uns einen Beatmungspatienten weiterleitet, habt ihr wieder mehr Betten für neue Patienten frei.” Angesichts der häufig überlasteten Intensivstationen komme dieses Argument bei vielen Kollegen gut an.

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Der Tag, an dem ich ein Pflegefall war

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Der Tag, an dem ich ein Pflegefall war

Von fremden Menschen gewaschen, gefüttert, auf die Toilette gehoben: Wie fühlt sich das an? Unsere Reporterin hat sich für ihr Buch „Endstation Altenheim“ einen Tag lang selbst pflegen lassen.

Es ist noch früh am Morgen, nebenan klappern im Speisesaal der Station “Agnes” die anderen Pfleger mit dem Frühstücksgeschirr. Ich muss aber vor dem Frühstück erst gewaschen werden. Pflegeschüler Mustafa E. hat mich in meinem Rollstuhl ins barrierefreie Stationsbadezimmer geschoben. Zahnbürste, Waschlappen und Handtuch liegen für meine Grundpflege bereit. “Müssen Sie zur Toilette?”, fragt er. Ich nicke. Er sagt: “Dann hebe ich Sie drauf.”

Auf meinen erschrockenen Gesichtsausdruck hin sagt er, es sei mir unmöglich, mich allein vom Rollstuhl auf den Toilettensitz zu hieven, wäre ich tatsächlich halbseitig gelähmt – so, wie ich es heute einen Tag lang vorgebe. Also hänge ich mich mit meinem funktionierenden Arm um seinen Hals und stütze mich mit dem gesunden Bein ab, während er mir Hose und Unterhose herunterzieht. Mustafa scheint selbst peinlich berührt. “Ich gucke weg, keine Angst, ich gucke nicht”, wiederholt er immer wieder, während er den Kopf wegdreht. Dann setzt er mich ab, gibt mir eine rote Klingelschnur in die Hand und sagt, ich solle daran ziehen, sobald ich fertig sei. Sofort nachdem er den Raum verlassen hat, habe ich das nächste Problem. Der Toilettenpapierhalter ist auf der linken Seite der Toilette befestigt. Während ich versuche, mit dem rechten Arm nach dem Papier zu angeln, komme ich aus dem Gleichgewicht. Wäre ich tatsächlich gelähmt, läge ich wohl jetzt auf dem Boden. Ich ziehe die Klingel.

Erst 20 Minuten zuvor bin ich ins Altenheim eingezogen, als Pflegefall für einen Tag. Um halb acht heute Morgen hat mich der Pflegedienstleiter des katholischen Heims in der Kölner Südstadt in Empfang genommen und mit mir durchgesprochen, welche “Einschränkungen” ich für den heutigen Tag haben werde: Ich werde vortäuschen, halbseitig gelähmt zu sein, mein linkes Bein und den Arm nicht bewegen zu können – und sitze daher im Rollstuhl. Außerdem werde ich nicht sprechen können.

Wie lebt es sich in deutschen Altenheimen? Wie viel von seiner Menschenwürde muss jemand, der sich im Heim pflegen lässt, aufgeben? In Köln gibt es die Möglichkeit, das zumindest teilweise nachempfinden zu können: eben im Seniorenzentrum Herz Jesu der Franziska Schervier Altenhilfe. Beim dortigen Projekt “Schattenmann/Schattenfrau” schlüpft der Teilnehmer für ein paar Stunden in die Rolle eines Pflegebedürftigen. Bisher war die Teilnahme zukünftigen Pflegern vorbehalten, die durch den Perspektivwechsel testen wollten, ob der Beruf Altenpfleger tatsächlich das Richtige für sie sei. Heimleiter Wolfgang Dyck ließ sich überreden, für das Buch “Endstation Altenheim” zum ersten Mal eine Journalistin zum Selbstversuch in die Einrichtung zu lassen.

Mustafa kommt wieder und erklärt, er werde mir das Gesicht waschen und die Zähne putzen. Beim Zähneputzen beginne ich, mit meiner beweglichen Hand zu putzen, lasse mir dann aber helfen. Mustafa reibt kräftig mit der Bürste über meine Kauflächen. “Nicht so fest drücken beim Putzen!”, denke ich, bei meinem empfindlichen Zahnschmelz! Sagen kann ich nichts, schließlich habe ich eine Sprachstörung. Ich schiebe den Gedanken weg, wie oft sich wohl ein echter Heimbewohner mit solch kleinen Dingen arrangiert, die ihn stören – weil es ihm zu aufwendig, zu kompliziert oder sogar unmöglich ist, sich mitzuteilen.

Im Speisesaal sitzen mittlerweile die ersten Bewohner am Tisch und kauen wortlos an ihren Brötchen. Ich lächle sie vorsichtig an. Mustafa sagt: “Das ist eine neue Bewohnerin. Sie schaut, ob es ihr hier gefällt.” Ich schreibe auf einen Zettel, was ich mir zum Frühstück wünsche: Brötchen mit Käse, Kaffee mit Milch. Mustafa bringt mir ein Kännchen dünnen Kaffee, verschwindet anschließend in der Heimküche.

Fünf Minuten vergehen. Im Raum ist es völlig still. Man hört nur das Klappern des Geschirrs. Keiner der anderen Bewohner spricht mich an, dafür mustern mich manche durchdringend. Ob es wohl auch echten Neuankömmlingen im Heim so geht? Mustafa kommt mit Brötchen, Butter und Käse zurück. Er muss mir das Brötchen halten, damit ich es schmieren kann. Bei jedem Handgriff denke ich “Danke”, sagen kann ich es ja nicht, bisher bestimmt schon 20 Mal an diesem Morgen. Es nervt mich schon selbst. Ich frage mich, ob man sich das irgendwann abgewöhnt.

Das Käsebrötchen schmeckt pappig und trocken, doch ich will nicht zu viel dazu trinken, da ich keine Lust habe, bald schon wieder von Mustafa auf die Toilette gehoben werden zu müssen. Ich will dem Pfleger nicht zu viel Arbeit machen, und es ist mir unangenehm. Vermutlich plagen sich gerade in diesem Moment überall auf der Welt Pflegebedürftige mit genau denselben Gedanken. Ein alter Mensch sollte laut Expertenempfehlung 1,5 Liter am Tag trinken. Jemandem, der für jeden Toilettengang um Hilfe klingeln muss oder sogar Hilfe braucht, um ein Glas zu heben, muss das unvorstellbar viel erscheinen.

Mustafa holt mich für eine Tour durchs Haus ab. Er versichert, am ersten Tag bekomme jeder Bewohner so viel Zuwendung. Wir fahren mit dem Aufzug in die Demenzstation. Schon auf dem Flur stinkt es nach Urin. Der Speiseraum der Station ist voll, wir können uns mit dem Rollstuhl kaum den Weg bahnen. Eine Bewohnerin beschwert sich laut, ich verstehe nicht, was sie sagt. Die anderen sitzen geistesabwesend auf ihrem Stuhl, manche wippen mit dem Oberkörper leicht vor und zurück. Auf dem Flur sitzt eine alte Dame auf einem Sofa und streichelt einen Plüschhasen. Mustafa erzählt, er habe schon mehrere Wochen auf dieser Station verbracht und auch schon auf Demenzstationen anderer Pflegeheime gearbeitet.

Ein männlicher Bewohner habe ihn beim Toilettengang aufgefordert, seinen Penis anzufassen, was ihn als unerfahrenen Auszubildenden völlig schockiert habe – andere Pfleger hätten ihm später erzählt, dass solche sexuelle Belästigung nicht ungewöhnlich sei. Es gebe häufiger männliche Bewohner, die vor den Pflegern oder anderen Bewohnern masturbieren würden. Er erzählt auch von einer Frau, die regelmäßig ihre Exkremente im Zimmer verteilte, bis in die Schubladen hinein. “Wenn man morgens zum Dienst kommt und erst mal das ganze Zimmer sauber putzen muss, macht das keinen großen Spaß”, sagt er.

Ich bin erleichtert, als der Pflegeschüler sagt, wir müssten jetzt weiter zum Gymnastikkurs. Rund 15 Bewohner sitzen schon im Stuhlkreis, dazu zwei Mitarbeiter des Dienstes, die einmal pro Woche mit einem Einkaufswagen voller bunter Gummibälle und Schwimmschlangen ihre Runde durchs Heim drehen. Mustafa stellt mich im Kreis ab, viel zu nah am nächsten Bewohner, wie ich finde. Ich versuche ein Lächeln in die Runde.

Es werden bunte Gummihanteln an die Stuhlrunde verteilt, “Erdnüsschen” nennt sie der Kursleiter. Jeder bekommt zwei Stück – ich, da ich meine linke Hand nicht bewegen kann, nur eine. Schon wieder eine unangenehme Situation, in der ich das Gefühl habe aufzufallen. Die Teilnehmer sollen die Hanteln drücken, um die Handgelenke zu trainieren, sollen sie in Kreisbewegungen über dem Kopf heben. Am Schluss dürfen alle ihre Bälle zurück in den Korb werfen. Dann verteilt der Kursleiter Gläser und schenkt Sprudelwasser aus. Mehrere der Senioren winken ab: “Ich hab keinen Durst.” Der Kursleiter lässt sich aber nicht abwimmeln: “Ach bitte, tun Sie mir den Gefallen!”

Das Schattenmann-Projekt, hatte mir der Heimleiter in einem Vorgespräch erklärt, diene dazu, die eigene Rolle als Pfleger zu reflektieren. Dyck, ein Diplom-Theologe, wirkte auch in einer Kommission mit, die vor einigen Jahren ethische Grundsätze für die Altenpflege formulierte und für das Bundesfamilienministerium in einer “Pflege-Charta” zusammenfasste. Zu ihrem Inhalt gehört etwa das Recht auf Wahrung und Schutz der Intimsphäre: Pflegekräfte sollen nicht ins Zimmer kommen, ohne anzuklopfen; Pfleger, die Heimbewohner duschen und dabei nackt sehen, sollten möglichst selten wechseln.

Endlich ist Mustafa wieder da. In einer halben Stunde ist es Zeit fürs Mittagessen. Schon wieder Essen. Vorher kann er mich aber immerhin noch eine Runde durch den vor dem Seniorenstift gelegenen Park fahren – ein Luxus, der im Heimalltag wohl nicht möglich wäre. Während er mich schiebt, erzählt er von seiner Pflegeschule und den Mitschülern. Eine, sagt er, müsse in ihrem Caritas-Heim manchmal vier Wochen am Stück durcharbeiten. Andere seien von Beginn der Ausbildung an wie examinierte Altenpfleger eingesetzt worden, mit zehn oder mehr Patienten, die sie jeden Morgen waschen und anziehen müssten, ohne Anleitung. Ich zeige Mustafa, dass ich zurückmöchte. Die mitleidigen, zum Teil skeptischen Blicke der Spaziergänger sind mir unangenehm.

Zum Mittagessen gibt es Nudelauflauf mit Thunfisch oder Leberkäse. Ich zeige auf den Thunfischauflauf. An meinem Tisch sitzen nun zwei Bewohner, die beim Frühstück noch nicht da waren, eine Frau und ein Mann. Der Mann hat ein riesiges Lätzchen umgelegt, es sieht entwürdigend aus, finde ich. Mustafa fragt: “Möchten Sie auch einen Kleiderschutz?” Ich schüttle entschieden den Kopf. Wieder schweigen alle. Die Frau, die mir gegenübersitzt, hat einen schleimigen Husten. Weil niemand spricht, klingt es umso lauter. Mir wird schlecht. Ich zwinge mich, den Auflauf trotzdem weiterzuessen. Die anderen Bewohner kauen ungerührt weiter. Ist das eine Frage des Alters? Gewöhnt man sich an so etwas?

Nach dem Mittagessen bringt mich Mustafa aufs Zimmer, es ist Zeit für den Mittagsschlaf. Ich beziehe ein Doppelzimmer, in dem zurzeit beide Betten frei sind. Weil niemand hier wohnt, sieht es aus wie in einem Krankenhauszimmer. Draußen scheint die Sonne, ich schaue sehnsüchtig aus dem Fenster. Schlafen kann ich nicht.

Nach dem Mittagsschlaf und dem Kaffeetrinken – auf Wunsch gibt es für die Bewohner auch Plätzchen oder Kuchen – wird meine “Entlassung” vorbereitet. Mustafa lässt es sich nicht nehmen, mich im Rollstuhl noch bis an die Eingangstür zu fahren. Als ich aus dem Rollstuhl steige, fühlen meine Beine und mein linker Arm sich steif an. Erleichtert hinaus in die Sonne.

Das Buch von Anette Dowideit, “Endstation Altenheim – Alltag und Missstände in der deutschen Pflege”, erscheint am 12. September im Redline Verlag, München. 240 Seiten, 19,99 € (D), ISBN 978-3-86881-344-9

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Altenheime – ein Fall für die Folterkontrolle?

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Altenheime – ein Fall für die Folterkontrolle?

Schläge, Hunger, Fixieren: Experten schätzen, dass jeder fünfte Bewohner eines Altenheims Opfer von Gewalt wird. Jetzt soll die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter Seniorenheime kontrollieren.

Vor Kurzem ging ein verstörender Kurzfilm durch die deutschen Medien, aufgenommen mit versteckter Kamera: Eine Pflegerin zieht einer alten, pflegebedürftigen Frau an den Haaren, schubst und beschimpft sie – offenbar nicht zum ersten Mal.

“Immer hauen Sie mich”, sagt die alte Demenzkranke auf dem Video zaghaft. Der Sohn der Bremer Heimbewohnerin hatte die Kamera im Zimmer seiner Mutter aufgebaut, obwohl eine solche Überwachung illegal ist. Er hatte sich nicht anders zu helfen gewusst: Sollte er seiner demenzkranken Mutter glauben, als sie erzählte, immer wieder von einer Pflegerin geschlagen zu werden, wenn sie nicht schnell genug half beim Waschen oder Anziehen?

Misshandlungen, Demütigungen und Schläge gehören nach Einschätzung von Pflegekritikern in vielen deutschen Heimen zum Alltag – und das trotz regelmäßiger Kontrollen durch staatliche Heimaufsichten und Kassen.

Demnächst müssen sich Altenheimbetreiber jedoch auf Besuche einer weiteren Aufsichtsstelle einstellen: Die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter soll nach Informationen der “Welt” schon bald auch Altenheime kontrollieren. “Unser gesetzlicher Auftrag umfasst die Pflegeheime, deshalb müssen auch diese Einrichtungen besucht werden”, sagte der Leiter der Länderkommission der Antifolterstelle, Rainer Dopp.

Bisher kontrolliert die Stelle Kasernen und Gefängnisse

Im Frühjahr werden die Justizminister der Bundesländer, die zwei Drittel der Kosten für die Stelle tragen, über eine Aufstockung der Mittel entscheiden. Werden Personal und Budget dann entsprechend erhöht, so sagt Dopp, könne man in die konkrete Planung für die Altenheimkontrollen gehen.

Die derzeitige Vorsitzende der Justizministerkonferenz der Länder, Saarlands Justizministerin Anke Rehlinger (SPD), kündigte an, das Vorhaben im Rahmen der haushaltspolitischen Möglichkeiten “uneingeschränkt unterstützen” zu wollen. “Wirksame Vorkehrungen gegen Menschenrechtsverletzungen in Einrichtungen der Freiheitsentziehung haben höchsten Stellenwert”, sagte Rehlinger. Derzeit prüft eine Arbeitsgruppe im hessischen Justizministerium die Pläne für den Ausbau. Dass dieser genehmigt wird, gilt im Umfeld der Justizministerkonferenz als wahrscheinlich.

Die Antifolterstelle war im Jahr 2009 installiert worden. Deutschland hatte damit auf ein entsprechendes Abkommen der Vereinten Nationen reagiert. Bisher stattet sie Polizeistationen, Bundeswehrkasernen und Gefängnissen stichprobenartig Besuche ab, gibt offizielle Berichte über ihre Arbeit ab und macht Verbesserungsvorschläge.

Gilt Freiheitsentzug schon als Folter?

Die Heime könnten in Zukunft etwa auf freiheitsentziehende Maßnahmen kontrolliert werden: Rund 14.000 Heimbewohner werden derzeit nach offiziellen Schätzungen der Pflegekassen ohne richterliche Anordnung mit Gurten im Bett fixiert. Auch systematische Gewalt gegen Heimbewohner könnte ein Thema für die Kontrollstelle sein.

Nach Einschätzungen von Pflegeexperten sind Übergriffe auf Patienten in der deutschen Altenpflege Alltag. “Wir vermuten, dass etwa jeder fünfte Heimbewohner im Laufe seines Aufenthalts mindestens einmal Opfer von Gewalt wird”, sagt etwa der renommierte Bonner Alterswissenschaftler und Psychiater Rolf D. Hirsch, dessen Initiative “Handeln statt Misshandeln” Opfer berät. Zu Misshandlungen komme es oftmals, weil viel zu wenige, chronisch überforderte Pfleger von einem Patienten zum nächsten hetzen müssen, um ihr Pensum zu schaffen.

Ob Schläge gegen Heimbewohner oder Freiheitsentzug bereits als Folter gelten können, ist strittig. Antifolterstellenleiter Dopp spricht vorsichtig davon, dass er und seine Mitarbeiter “menschenwürdige Behandlung” in den untersuchten Einrichtungen gewährleisten sollen.

Der Antifolterstelle ergeht es wie vielen Einrichtungen, die als Beschluss aus einem UN-Abkommen hervorgehen: In westlichen Ländern müssen Vorgaben umgesetzt werden, die eigentlich für andere Länder entwickelt wurden. Nämlich solche, in denen die Lebensbedingungen der Menschen weit schlechter sind als in der Bundesrepublik.

Definiert man jedoch, wie etwa Wikipedia es tut, Folter als “gezieltes Zufügen von psychischem oder physischem Leid, beispielsweise, um den Willen und den Widerstand des Folteropfers zu brechen”, könnte die Einordnung gerechtfertigt sein – zumal, wenn man Fälle wie den der dementen Bremer Heimbewohnerin betrachtet, die offenbar von der verantwortlichen Pflegerin dazu gebracht werden sollte, beim Waschen gefügig zu sein, um dieser die Arbeit zu erleichtern.

Nur eine Handvoll Mitarbeiter

Ein ähnlicher Fall machte Anfang dieser Woche in Hessen Schlagzeilen: Die Bewohnerin eines katholischen Pflegeheims war plötzlich an der rechten Gesichtshälfte mit blauen Flecken übersät. Angeblich sei die alte Dame bei der Mundpflege “mit einer Zahnbürste verletzt” worden, so die Aussage der verantwortlichen und mittlerweile entlassenen Pflegerin. Die Angehörigen dagegen vermuten, die Bewohnerin habe sich gegen das Zähneputzen gewehrt und sei daraufhin von der Pflegerin geschlagen worden.

Verhindern können wird auch die Antifolterstelle solche Fälle allerdings nicht – zumal ihr Auftrag rein präventiv angelegt ist, wie Länderkommissionsleiter Dopp sagt. “Unsere Aufgabe besteht darin, über mögliche Menschenrechtsverletzungen aufzuklären und diese gar nicht erst entstehen zu lassen.” Das sind oft kleine Dinge: In einem Gefängnis schlugen die Kontrolleure beispielsweise vor Kurzem vor, die Milchglasscheibe im Fenster einer Einzelzelle durch herkömmliches Glas zu ersetzen, damit der Häftling zumindest freie Sicht nach außen habe.

Die Wahrscheinlichkeit, künftig als Heim einen unangekündigten Besuch der Antifolterstelle zu erhalten, ist bei fast 12.000 Einrichtungen bundesweit allerdings gering. Bisher arbeiten für die Antifolterstelle lediglich fünf ehrenamtlich tätige Kontrolleure, dazu kommen eine Handvoll Mitarbeiter in der Verwaltung. Auch bei einer finanziellen Aufstockung dürfte die Zahl überschaubar bleiben. Zumindest in Bezug auf die Altenpflege im Land hat die Einrichtung bislang eher Symbolwert.

Oftmals wird die Menschenwürde nicht gewahrt

Dennoch ist schon jetzt in Süddeutschland eine Debatte über die geplanten Kontrollen entbrannt – unter Beteiligung des Bayerischen Sozialministeriums. Vor einigen Wochen hatte die Antifolterstelle das Ministerium um eine Adressliste aller Heime im Freistaat gebeten. Das Ministerium unter CSU-Sozialministerin Christine Haderthauer befürchtete offenbar, die Altenheime im Land würden durch die reine Ankündigung in ein schlechtes Licht gesetzt, und reagierte mit einem Rundbrief an die Träger der Heime. Darin wies es ausdrücklich darauf hin, von der Antifolterstelle zur Herausgabe der Adressen aufgefordert worden zu sein und mit den geplanten Kontrollen nichts zu tun zu haben.

Auf Anfrage dieser Zeitung teilt das Ministerium mit, Altenheime seien grundsätzlich keine “Gewahrsamseinrichtungen” – im Gegensatz zu Polizeistationen könnten dort keine Menschen gegen ihren Willen festgehalten werden – und als solche fielen sie wohl auch nicht unter die Zuständigkeit der Antifolterstelle. Seither ereiferten sich Landräte und Trägereinrichtungen öffentlich, die Heime würden durch die Pläne für Folterkontrollen unter einen Generalverdacht gestellt.

Die Fakten allerdings sprechen dafür, dass in deutschen Pflegeheimen die Menschenwürde tatsächlich vielfach nicht gewahrt ist: Fast eine Viertelmillion Menschen werden laut Schätzungen des Bremer Zentrums für Sozialforschung mit Psychopharmaka ruhiggestellt – ohne dass damit wirksam Krankheiten behandelt werden, sondern vorrangig, um dem Pflegepersonal die Arbeit zu erleichtern. Auch für eine notwendige Versorgung mit Essen und Trinken ist häufig nicht gesorgt: Rund 36.000 Heimbewohner leiden laut Pflegekassen Hunger oder Durst, weil die Pfleger kaum Zeit haben, ihnen beim Essen zu helfen.

Der Fall der misshandelten Bremer Heimbewohnerin indes hat ein rechtliches Nachspiel: Die Staatsanwaltschaft hat gegen die verantwortliche Altenpflegerin Anklage erhoben.

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Strafanzeige gegen Altenheim wegen Ruhigstellung

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Strafanzeige gegen Altenheim wegen Ruhigstellung

Vor rund einem Jahr hatten wir in der Welt am Sonntag berichtet: Schätzungsweise fast eine Viertelmillion Demenzkranker in Deutschland werden mit Medikamenten ruhiggestellt, weil völlig überforderte Altenpfleger sich nicht anders zu helfen wissen. Nun reagiert eine Münchener Rechtsanwältin auf den Bericht: Mit einer Strafanzeige gegen den Leiter eines Altenheims und einen Arzt.

Es ist wahrscheinlich das erste Mal, dass ein Angehöriger eines Pflegebedürftigen diesen Schritt wagt: Die Münchenerin Dagmar Schön zeigte Mitte vergangener Woche den Psychiater und den Leiter des Heims an, in dem ihre mittlerweile verstorbene Mutter lebte.

In ihrer 21-seitigen Anzeige beruft sich die Rechtsanwältin unter anderem auf unseren Bericht von vergangenem Frühjahr. Darin hatten wir auf drei Zeitungsseiten nachgezeichnet, wie viele Menschen in deutschen Altenheimen und in der häuslichen Pflege mit Medikamenten außer Gefecht gesetzt werden, damit sie weniger Arbeit machen – und wie manche Heime damit auch noch abkassieren, weil die Bewohner dann unter Umständen in höhere Pflegestufen eingeordnet werden.

Laut der uns vorliegenden Anzeigeschrift hat auch die Mutter von Dagmar Schön das erlebt: Sie soll vom angeklagten Arzt, einem Psychiater, Neuroleptika verordnet bekommen haben – weil sie nachtaktiv war und so dazu gebracht werden sollte, im Bett zu bleiben, anstatt nachts durch das Altenheim zu laufen. Die Tochter, rechtliche Betreuerin der demenkranken Mutter, hatte den Arzt jedoch nie beauftragt. Stattdessen soll der Heimleiter mit ihm regelmäßig eng zusammenwirken.

Die Klägerin schreibt in ihrer Strafanzeige weiter, nicht nur ihre Mutter, sondern auch andere Heimbewohner seien vermutlich “medikamentös fixiert” worden. Das Heim sei personell deutlich unterbesetzt gewesen – was offenbar in vielen Altenheimen traurige Realität ist.

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Noch ein Pflegeskandal?

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Noch ein Pflegeskandal?

Wir haben es in der WELT-Redaktion lange diskutiert: Noch ein Pflegeskandal – sollen wir darüber berichten – schon wieder, obwohl doch mittlerweile jedem klar sein müsste, dass in Deutschland mit alten, gebrechlichen Menschen oft alles andere als respektvoll umgegangen wird? Sollen wir das Thema tatsächlich noch einmal in dieser Länge aufgreifen – auf fünf Seiten in der Welt am Sonntag in der Rubrik “Titelthema”?

Als wir jedoch die Unterlagen zum Fall der Familie M. aus Bremen auf den Tisch bekamen, waren wir überzeugt: Es wäre journalistisch falsch, nicht ausführlich zu berichten. Zu drastisch sind die seelischen und körperlichen Grausamkeiten, die der Vater der Familie im Altenheim erlebte. Eine seiner Töchter hat sie minutiös protokolliert.

Nicht so sehr die körperlichen Verletzungen, die der alte Mann im Heim erlitt, machen traurig, sondern vor allem Erniedrigungen und rohe Umgangsformen, die der über 90-Jährige und seine Heimgenossen laut der Schilderungen erlebt haben sollen.Ebenso wie die ernüchternde Einsicht, dass Gewalt gegen Pflegebedürftige im deutschen Justizsystem fast nie hart bestraft wird. Lesen Sie den Text hier.

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Ärztepfusch – ein Massenphänomen?

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Ärztepfusch – ein Massenphänomen?

Jessica Meinschein war 16 Jahre alt, als sie auf einem OP-Tisch in Niedersachsen lag. Etwa zwei Tage später war sie tot – doch ob daran der Chirurg Schuld gewesen sein könnte, konnte die Staatsanwaltschaft nicht nachweisen. Ihre Geschichte ist ausführlich auf einer Internetseite ihrer Mutter nachzulesen.

So drastisch Jessicas Fall klingt: Ganz so ungewöhnlich ist es offenbar nicht, dass auch junge, fast gesunde Menschen auf OP-Tischen sterben. Darauf deuten zumindest die E-Mails und Leserkommentare hin, die uns schon am Erscheinungstag des aktuellen “Titelthemas” in der Welt am Sonntag erreichten. Leser schreiben, ihnen sei ähnliches geschehen; auch ihr Kind sei völlig unerwartet bei einer OP gestorben, doch den Ärzten habe man kein Verschulden nachweisen können.

Unter dem Titel “Gesundheitsrisiko Krankenhaus” haben wir zusammengetragen, was alles schiefläuft in deutschen Krankenhäusern (zum Beispiel, dass laut aktuellem AOK-Krankenhausreport jährlich rund 19.000 Menschen durch Behandlungsfehler in den Krankenhäusern sterben) – und warum sich daran nur schwer etwas ändern lässt. Lesen Sie die Geschichte hier.

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Wochenbrief: Was uns 2015 (weiterhin) bewegt

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Wochenbrief: Was uns 2015 (weiterhin) bewegt

Liebe Leserinnen und Leser,

Geschichten sind nicht abgeschlossen, wenn sie einmal veröffentlicht sind. Das Ziel des Investigativ-Teams der WELT-Gruppe ist es, Themen anzustoßen, Missstände aufzuzeigen und etwas zu bewegen. Hier einige Stories aus 2014, deren erneute Lektüre sich lohnen könnte. Denn diese Themen sollten uns auch 2015 bewegen:

Parteistiftungen als Staatsplünderer: Die politischen Stiftungen sind ein Aushängeschild der deutschen Demokratie. Sie werden aber zur zweifelhaften Parteienfinanzierung benutzt. Unsere Reporter Martin Lutz und Uwe Müller sind tief in dieses komplexe System intransparenter Selbstbedienungsmethoden eingetaucht und haben eindrucksvoll aufgezeigt, wie die Millionen dort landen, wo sie nicht hingehören. In diesem Jahr werden die Stiftungen nun vom Bundesverfassungsgericht überprüft. Vielleicht wird Karlsruhe einige der gröbsten Missstände abstellen. Berlin wird bestimmt keine Reformen anstoßen: Die Parteien im Bundestags – von ganz links bis rechts – sind so einig wie selten, dass dieser Selbstbedienungsladen geöffnet bleiben soll. Wir werden also nachsetzen müssen.

Die skandalöse Welt-Fußballverband: Russland und Katar – dort sollen die nächsten beiden Weltmeisterschaften stattfinden. Allein die Auswahl wirft Fragen auf. Tim Röhn ist ganz nah dran, wenn es um die dubiosen Machenschaften im Umfeld der Herrscher über den Weltfußball geht. Deshalb sei hier nicht eine Geschichte genannt – sondern nur der Link, wenn man auf der welt.de-Seite “Röhn” und “Fifa” eingibt. Die Artikelsammlung erzählt (fast) alles. Fortsetzung folgt!

Ramelow und die Stasi: Der erste Ministerpräsident der Linken, Bodo Ramelow, versprach, in seiner Regierung keinen Platz für Menschen zu lassen, die sich im DDR-Unrechtsregime schuldig gemacht hätten. Unsere Reporter Martin Lutz und Uwe Müller enthüllten allerdings: Nicht nur hat die Linke ihr Parteivermögen einem alten Stasi-Netzwerk anvertraut, Ramelow war selbst Teil dieses Systems. Die Reaktion des neuen thüringischen Ministerpräsidenten beschränkte sich auf die Behauptung, unsere Autoren seien Erfüllungsgehilfen seiner politischen Gegner. Es gibt also noch viel zu tun, was die Aufarbeitung der SED- und Stasi-Vergangenheit der Linken angeht.

Das internationale Geiselgeschäft: Als Florian Flade im Oktober über den Fall des Toni N. und seine Befreiung aus der Geiselhaft des sogenannten IS berichtete, war die Aufregung im Außenministerium groß. Der Sprecher intervenierte, versuchte die Berichterstattung zu verhindern, weil sie angeblich andere Geiseln gefährden könnte.  Gerade hatten die Terroristen de Islamischen Staates (IS) den US-Amerikaner James Foley ermordet, da hatte Flade recherchiert, dass die Bundesregierung einen jungen Mann aus Brandenburg mit Lösegeld aus den Händen des IS befreit hatte. Nach eingehender Prüfung kamen wir zum Schluss, dass eine Berichterstattung nicht Menschen in Gefahr brächte. Mit aller Sorgfalt gingen wir vor, änderten den Namen der betroffenen deutschen Geisel, ließen konkrete Zahlen aus. Andere Medien taten das anschließend nicht, nannten Toni N. einschließlich Foto. Trotzdem zweifelte Außenminister Frank-Walter Steinmeier wegen dieses Beitrags kurz vor Weihnachten in einer öffentlichen Rede an der Seriosität der „Welt“. Was zeigt, dass der Außenminister sich weniger mit dem Artikel an sich befasst haben dürfte als wohl eher der Version seines Sprechers Glauben schenkt. Dessen Vorgehen zur Unterbindung von Berichterstattung hatte uns allerdings sehr befremdet. Angesichts der weiteren Ereignisse und Medienberichterstattung über Geiseln in den weiteren Monaten des vergangenen Jahres fühlen wir uns mehr als bestätigt. Und eins sei versichert: Seriösität – sprich faktische Genauigkeit und Verantwortung für diejenigen, über die wir berichten – steht für uns an vorderster Stelle.

Flüchtlinge und Flüchtlingsheime: Das Thema hatten wir früh auf der Agenda. Marc Neller und Vanessa Schlesier berichteten im Sommer über einen Flüchtlingsschleuser in der Türkei. Die Reporter Ileana Grabitz, Uwe Müller, Lars-Marten Nagel und Vanessa Schlesier veranschaulichten anschließend in ihrer Reportage, wie Landkreise sparen, indem sie Flüchtlingswohnheime von privaten Firmen betreiben lassen – die ihrerseits die Asylbewerber nicht selten in Schrottimmobilien unterbringen, um überhaupt Gewinne zu machen. Schnell wurde klar, dass die Kommunen mit der Unterbringung von Asylbewerbern völlig überfordert sind. Die Quittung bekamen sie, als im Spätsommer das Flüchtlingschaos über Deutschland hereinbrach. Betreiber des dortigen Wohnheims ist immer noch ein gewisser  Wilfried Pohl. Der jagte früher als Stasi-General Republikflüchtlinge, heute verdient er mit Flüchtlingen aus Bürgerkriegsregionen sein Geld. Auch diese Geschichte ist noch nicht zu Ende.

Depressive und Schizophrenie bei Kindern und Jugendlichen: Als Anette Dowideit im April darüber berichtete, wie schwer es ist, Depression und Schizophrenie bei Kindern und Jugendlichen zu diagnostizieren und zwischen Pubertät und Krankheit zu unterscheiden, da fand die Geschichte viel Beachtung, ein Aufschrei blieb aber aus. Falsch so: Weiterhin ist die Zahl der ambulanten Behandlungsplätze für Jugendliche viel zu gering. Es ist ein Thema, das uns auch 2015  bewegen wird – genauso wie die Probleme in der Pflege von schwerkranken Menschen. Wo Menschen sich nicht (mehr) artikulieren können, fehlt meist auch die Lobby.

Tibet/Dalai Lama: Auf acht Seiten berichteten wir im September über die 100 Tage, die der Fotograf York Hovest 2012 und 2013 in der von China annektierten Region verbrachte. Vor der Veröffentlichung dieser Fotoreportage war Hovest gemeinsam mit Jörg Eigendorf nach Indien zum Dalai Lama gereist, um ihm das Ergebnis seiner Recherchen zu präsentieren – unter anderem den National-Geographic-Bildband “Hundert Tage Tibet”. Dieser war tief bewegt – und gab ein Interview mit einer Botschaft, die weit über das Jahr 2015 Bedeutung haben wird: Nach ihm werde es wohl keinen weiteren Dalai Lama geben, prophezeite er. Im Juli dieses Jahres wird der Dalai Lama 80 alt. Und China wird nicht umhinkommen, irgendwann eine Antwort darauf zu gehen, wie es mit Tibet und dem tibetischen Buddhismus umgehen will. Denn immer mehr Chinesen folgen dieser Religion.

Ukraine/Russland: Das Top-Thema für die Deutschen war 2014 zweifelsohne der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland. Die “Welt am Sonntag” war die erste Zeitung, die diese Auseinandersetzung zwischen Separatisten und dem ukrainischen Militär im Osten des Landes einen Krieg nannte. Das war im Mai diesen Jahres. Jörg Eigendorf und Julia Smirnova waren zuvor durch die Gebiete Lugansk und Donezk gereist, sie hatten mit Menschen auf beiden Seiten gesprochen und Gräben vorgefunden, die sich kaum mehr zuschütten lassen. Es ist ein Tagebuch, in dem sich vieles herauslesen ließ, was dann passierte.

Wir wünschen alles Gute für 2015,

Ihre Ileana Grabitz und Ihr Jörg Eigendorf

 

 

 

 

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Investigativ in den Medien am Wochenende

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Investigativ in den Medien am Wochenende

Print/Digital

Ramstein: Die Bundesanwaltschaft will prüfen, welche Rolle die US-Militärbasis Ramstein in Rheinland-Pfalz im weltweiten Drohnenkrieg der USA spielt. Die oberste Anklagebehörde Deutschlands leitete nach Informationen des Spiegel einen sogenannten Beobachtungsvorgang ein und prüft, ob es durch die Aktivitäten auf der US-Basis womöglich Verstöße gegen das Völkerstrafrecht gab. Der Spiegel und die US-Website The Intercept hatten im April Dokumente veröffentlicht, welche die zentrale Rolle von Ramstein beim Drohnenkrieg belegen sollen.

Pflege: In deutschen Altenheimen werden nach Informationen der Welt am Sonntag vermehrt angelernte Helfer für Pflegearbeiten eingesetzt, die sie gar nicht machen dürfen. Bundesweit steigt derzeit die Zahl der sogenannten Betreuungsassistenten, die Heimbewohner sozial begleiten sollen. Dem Bericht zufolge verrichten diese Assistenten aber in vielen Heimen Aufgaben von ausgebildeten Pflegern – was gesetzwidrig ist. Sie müssen demnach etwa Bewohner allein waschen, im Bett lagern oder ihnen Medikamente verabreichen.

Piloten: Die Europäische Kommission verschärft nach Recherchen der Welt am Sonntag ihren Druck auf Deutschland bei der Sicherheit im Flugverkehr. Die Behörde droht demnach, wegen der mangelhaften Gesundheitsüberprüfungen von Piloten noch im Juni ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland auf den Weg zu bringen. Die Kommission bemängelt dem Bericht zufolge unter anderem, dass das zuständige Luftfahrtbundesamt Daten über mögliche Erkrankungen von Piloten ohne die Klarnamen der Piloten erhält, sondern nur in pseudonymisierter Form.

Pkw-Maut: Die Brüsseler EU-Kommission wird Deutschland nach Informationen der Welt wegen der Pkw-Maut vor dem Europäischen Gerichtshof verklagen. “Wir werden gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren wegen der Pkw-Maut einleiten, weil sie ausländische Fahrer diskriminiert und damit gegen EU-Recht verstößt”, hieß es laut der Zeitung in hohen Kreisen der EU-Kommission. Das Verfahren wird nach Informationen der Welt möglicherweise noch vor Beginn der Sommerpause Anfang August eingeleitet werden.

G7-Gipfel: Die Sicherheitsbehörden stellen sich nach Informationen von Spiegel Online und der Welt auf ein erhebliches Eskalationspotenzial rund um den G7-Gipfel ein, der im oberbayerischen Schloss Elmau vom 7. bis 8. Juni stattfindet. Einem Lagebericht des bayerischen Verfassungsschutzes zufolge ist mit bis zu circa 3000 Demonstranten aus dem “gewaltorientierten Spektrum” zu rechnen. In der Welt hieß es, das Bundeskriminalamt (BKA) befürchte, dass kleinere Gruppen versuchen werden, die polizeilichen Absperrungen zu umgehen und in den engeren Sicherheitsbereich zu gelangen. Laut dem 52-seitigen BKA-Berich stelle der G7-Gipfel auch für islamistische Terroristen “ein grundsätzlich lohnendes Ziel dar”.

Cyber-Angriff: Der US-Geheimdienst NSA soll in den Jahren 2009 und 2010 erfolglos versucht haben, Atomanlagen in Nordkorea mit der Cyberwaffe Stuxnet zu attackieren. Geheimdienst-Insider berichteten der Nachrichtenagentur Reuters, der Angriff sei unter anderem an der mangelnden Vernetzung der kritischen Infrastrukturen Nordkoreas gescheitert. Stuxnet gilt als eine der perfidesten Cyberwaffen, die bisher entwickelt wurden. Die USA und Israel sollen damit auch Atomanlagen in Iran sabotiert haben.

Schlepper: Anhand eines Porträts eines professionellen Schleppers namens Seif, der im ägyptisch-libyschen Grenzgebiet agiert, ermöglicht die Bild am Sonntag einen seltenen Einblick in das verbotene Geschäft. Mit einer einzigen Fahrt eines Flücht­lings­boots lasse sich bis zu eine Mil­lion Euro verdienen, sagt der 34-Jährige.

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Keine Stories

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Billigpfleger im Altenheim: Sicht der Betroffenen

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Billigpfleger im Altenheim: Sicht der Betroffenen

„Betreuungassistent“ heißt das Zaubermittel, mit dem Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe und der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Karl-Josef Lauman (beide CDU), die Situation in deutschen Pflegeheimen bekämpfen wollen. Während die Politiker aus der Regierungskoalition sich für den massenhaften Einsatz dieser  im Schnellverfahren geschulten Pflegekräfte stark machen, sind Pfleger- und Angehörigenverbände allerdings alarmiert.

Ihnen zufolge werden die Alltagshelfer, die eigentlich nur für soziale Aufgaben eingesetzt werden dürfen, in der Praxis häufig als Billigpfleger missbraucht – weshalb die Qualitätsstandards in den Heimen zu sinken drohten. Dass dem teils wirklich so ist, illustriert eine Studie des GKV-Spitzenverbands (PDF: Evaluation der Betreuungskräfte-Richtlinie), die die gesetzlichen Krankenkassen schon 2012 veröffentlicht haben; außerdem eine aktuelle, nicht repräsentative Umfrage der Angehörigen-Initiative Heim-Mitwirkung.de und dem Angehörigen-Verband BIVA.

Wir wollten es genau wissen, und haben mit Hilfe der Verbände selbst Aussagen von gesammelt.

Wir bekamen zum Beispiel Zuschriften von Betreuungsassistenten. Eine von ihnen schrieb uns dies:

„2012 habe ich mich hier im Landkreis beim größten Altenheimträger beworben. Ich muss erwähnen, dass ich bis dato nie etwas mit Pflege oder Betreuung zu tun hatte, außer wenn das Wickeln meiner Kinder zählt :-). (…) Sie suchten nach Leuten, die Leistungen erbringen für die man eigentlich gelernt haben müsste. Ich habe nicht gelernt, und trotzdem: Ich habe Medikamente verabreicht. Ich habe “gefüttert”. Ich zog Kompressionsstrümpfe an und und … Wenn ich mal gesagt habe, dass ich das eigentlich nicht darf, war ich unten durch. (…) Wenn einer zum Beispiel einen Bewohner fertig hat, nimmt auch jede ungelernte Kraft einfach die Medikamente aus dem Tablettenschrank und verabreicht diese. Ich komme aus Baden Württemberg und bin in einer Privatwirtschaftlichen Einrichtung in einer geschlossenen, für an Demenz und Alzheimer Erkrankte.“

Eine andere meinte:

„Ich habe selbst als Betreuungsasisstentin gearbeitet! Essen anreichen war Standard, auch für die Toilettengänge bin ich sehr gerne gerufen worden… Es war sehr schwer, sich abzugrenzen, da ich mich mit der Mini-Ausbildung zur Betreuungsassistentin doch oft als minderwertiger gefühlt habe.“

Und eine Dritte formulierte es so:

“Seit Februar diesen Jahres arbeite ich nun in einem Alten-/Pflegeheim und mache berufsbegleitend diesen Kurs. Es hat ziemlich genau EINEN Tag bei der Arbeit gedauert, bis mir klar war, dass ich mich da auf etwas eingelassen hatte, dass ich unumwunden und ganz nüchtern als “Ausbeutung” bezeichnen möchte. Und als “Nötigung”. Nicht nur, dass das völlig überlastete Pflegepersonal in keinster Weise darüber aufgeklärt ist, was die Aufgaben vom Job von 87b-lern ist. Nein. Auch und ganz besonders der Einrichtungsleiter tun NICHTS dafür, daran etwas zu ändern. Ganz im Gegenteil. . . Hauptsache, die Bewohner sind “irgenwie” betreut….”

Auch etliche Altenpfleger schrieben uns – zum Beispiel das:

„Ich habe schon öfter gesehen und erlebt, das Betreuungsassistenten in Pflegeeinrichtungen Essen anreichen, Toilettengänge durchführen oder auch mal bettlägerige Bewohner lagern.“

„Teilweise standen in der besagten Einrichtung nicht genügend Pflegefachkräfte zur Verfügung, so dass auch das Betreuungspersonal an vielen Tagen die eigentlich Pflege des Seniors übernahmen. Diese beinhaltete unter anderem die Ganzkörperwaschung, das Lagern und Betten des Bewohners, das Anreichen von Nahrung und Flüssigkeiten, etc. Auch der Nachtdienst war von der chronischen Unterbesetzung betroffen. (…) In manchen Nächten wurde der Pflegefachkraft eine Betreuungskraft zur Seite gestellt, um den Dienst abzudecken. Die Aufgaben der Betreuungskraft waren auch Nachts das Lagern und Betten der Bewohner, auch war sie bei den nächtlichen Rundgängen zum Wechsel der Inkontinenzprodukte zu Gange. Eingeteilt wurden diese von der Pflegedienstleitung. (…)“

„Ich bin seit elf Jahren Pflegefachkraft und habe schon so einiges erlebt. Dass Betreuungsassistenten Essen anreichen und verteilen, ist mittlerweile in den meisten Einrichtungen “normal” da es für Pflegekräfte kaum noch zu schaffen ist.“

„Zu den gestellten Fragen können wir sagen, dass bei uns (…) 1-2 x wöchentlich und mehr (im dementiellen Bereich) die Betreuungsassistenten nicht ihren Aufgaben gerecht eingesetzt werden. Wobei sie hier nicht in die grundpflegerische Versorgung einbezogen sind, sondern mehr in den Küchenservice, Vorbereiten und Nachbereiten von Frühstück, Mittag, Vesper und Abendbrot, sowie evtl. Toilettengänge.“

Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Laumann, sagte uns auf Anfrage: “Die zulässigen Tätigkeiten sowie die Anforderungen und Qualifikationen der zusätzlichen Betreuungskräfte sind in den Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes eindeutig definiert. Hinweisen auf Verstöße gegen diese Vorschriften müssen die zuständigen Aufsichtsbehörden selbstverständlich nachgehen und ggfs. tätig werden.” Auf Nachfrage heißt es in seinem Büro, von einem missbräuchlichen Einsatz der Betreuungsassistenten habe man dort noch nie gehört.

Angesichts der Fülle der Kommentare ist das schwer vorstellbar.

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Investigativ in den Medien am Mittwoch

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Investigativ in den Medien am Mittwoch

Rüstung: In der Affäre um das Sturmgewehr G36 der Bundeswehr erhärtet sich der Verdacht, dass Mitarbeiter des Bundesverteidigungsministeriums (BMVg) dem Waffenhersteller Heckler & Koch dabei geholfen haben, die Mängel an der Waffe zu vertuschen. So wurden gegen die bundeswehrinternen Kritiker des G36 in der Wehrtechnischen Dienststelle 91 (WTD 91) sogar Dienstaufsichtsverfahren eingeleitet.
Frontal 21 konnte die Vernehmungsprotokolle einsehen. Darin beklagen die verfolgten Wehrtechniker massive Einflussnahme des Verteidigungsministeriums. Außerdem geht entgegen der bisherigen Darstellung aus den jetzt aufgetauchten Vernehmungsprotokollen hervor, dass der MAD möglicherweise doch eingesetzt worden sein könnte, um die Weitergabe vertraulicher Informationen über das mangelhafte Gewehr an Journalisten zu untersuchen.

Libyen: Angesichts der chaotischen Lage in Libyen befürchtet die Bundesregierung nach Informationen von Spiegel Online ein weiteres Erstarken des “Islamischen Staates” (IS) in dem Land. Das Sicherheitsvakuum in Libyen führe zu einer Konsolidierung des IS und einer Destabilisierung angrenzender Regionen, heißt es in einer vertraulichen Regierungsanalyse.

A400M: Anderthalb Monate nach dem Absturz eines Airbus A400M in Spanien will die Luftwaffe den Testbetrieb mit dem deutschen Militärtransporter wieder aufnehmen. Nach Informationen von Spiegel Online ordnete ein Luftwaffen-Inspekteur am Dienstag an, dass die in Wunstorf stationierte Maschine ab Mitte Juli wieder fliegen soll. Vorher sollen allerdings die Mannschaften genau über die Unfallursache in Spanien informiert werden, zudem werden weitere Mängel an dem Flieger untersucht.

Flüchtlinge: Das Alter von unbegleiteten minderjährige Flüchtlingen wird durch sogenannte Altersfeststellungen ermittelt. Nach einem Bericht von Frontal 21 kommt es dabei immer wieder zu ungenauen Gutachten. Wird ein Flüchtlingskind von Ärzten dabei fälschlicherweise volljährig geschätzt, muss es die Jugendhilfe verlassen und ist von Abschiebung bedroht.

Pflege: Die Pflege eines schwerbehinderten Kindes zu Hause erfordert häufig Unterstützung von ausgebildeten Kräften. Einem Bericht von Panorama 3 zufolge sparen einige Kassen jedoch ausgerechnet bei diesen oft existentiellen Hilfeleistungen.

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Investigativ in den Medien am Donnerstag

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Investigativ in den Medien am Donnerstag

Rüstung: Nach einem Bericht der Zeit gibt es Hinweise, dass die Bundeswehr Lobbyarbeit für den Rüstungskonzern Rheinmetall Defence leistete. Demnach organisierte die Bundeswehr in der Vergangenheit mehrfach Verkaufstreffen für die Rüstungsindustrie. So hätte das Unternehmen in einer deutschen Kaserne mehrfach ausländische Armeen im Rahmen von Industriebesuchen empfangen. Außerdem entsandte die Bundeswehr sogenannte Militärberater zum Aufbau eines Gefechtsübungszentrums nach Russland.

Pflege: Das Vermittlungsportal der europäischen Arbeitsagenturen, Eures, wirbt seit drei Jahren gezielt spanische Pflegekräfte an. Sie sollen in Deutschland dem Pflegenotstand abhelfen. Wie Plusminus berichtet, lässt die Behandlung der ausländischen Arbeitskräfte allerdings bisweilen zu wünschen übrig: Das Magazin hat einen Fall aufgedeckt, in dem spanische Pflegekräfte tagsüber ihre Zimmer nicht verlassen durften, damit nicht auffiele, dass sie kein Deutsch sprachen. Außerdem seien zuvor vereinbarte Deutschkurse nicht vermittelt worden. Zudem wurde den Pflegekräften mit hohen Strafen gedroht, für den Fall dass sie ihre Arbeitsverträge vor Ablauf der Mindestlaufzeit kündigen würden.

Flüchtlinge: Die ursprünglich von Til Schweiger geplante “Vorzeigeunterkunft für Flüchtlinge” in Osterode wird immer mehr zum Problemfall: Nach Informationen von NDR Info gibt es in der dafür vorgesehenen Immobile ein massives Problem mit Giftstoffen: Wie in vielen anderen Bundeswehrgebäuden aus den 1960er-Jahren fänden sich auch in dieser Kaserne Giftstoffe wie Asbest, Glaswolle und das krebserregende PCB. Auch der Landkreis Osterode bestätigte, dass viele Räume der Kaserne deshalb für einen Daueraufenthalt zurzeit nicht geeignet seien.

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So wirbt die Russenmafia ihre Pflege-Kunden an

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So wirbt die Russenmafia ihre Pflege-Kunden an

Pflegebetrug

Foto: dpa-tmn

Das Bundeskriminalamt hat Hinweise auf organisierte Kriminalität in der ambulanten Pflege vor allem durch die Russen-Mafia. Bei den Krankenkassen befürchtet man, dadurch jährlich um mindestens eine Milliarde Euro betrogen zu werden. Darüber berichten wir in der Welt am Sonntag in einem gemeinsamen Artikel mit BR Recherche. Doch wie funktioniert das Geschäft konkret? Hier erklären wir es.

Die organisierten Banden tun zweierlei: Zum einen suchen sie sich seit Jahren ältere Menschen, die noch rüstig sind und überreden sie, gegenüber den Prüfern der Krankenkassen und Kommunen so zu tun als seien sie pflegebedürftig. Das ergaunerte Geld teilen sich Pflegedienst und Patient.

Zum anderen – und dies ist neu, haben sich einige der Banden nun auf schwerstpflegebedürftige Patienten konzentriert, die rund um die Uhr gepflegt werden müssen. An einem solchen Patienten lassen sich pro Monat im Schnitt 22.000 Euro verdienen. Die betrügerischen Pflegedienste besuchen den Patienten aber nur zwei- oder dreimal am Tag anstatt ihn rund um die Uhr zu umsorgen – oder stellen statt Fachkräften billige Helfer dafür ab. Das ist zwar für die Patienten lebensgefährlich, dennoch lassen sich offenbar ihre Angehörigen häufig darauf ein, weil sie ebenfalls ein Stück vom Kuchen abbekommen. Die Betrüger erzielen so “Gewinnmargen” von bis zu 50 Prozent.

Polizei und Staatsanwaltschaften beurteilen das Vorgehen der Banden unseren Recherchen zufolge teilweise als organisierte Kriminalität.

Im internen BKA-Bericht, der den Vermerk “nicht pressefrei” trägt, heißt es: Eine “ok-Relevanz” ergebe sich unter anderem aus der Erkenntnis, dass die “Vermittlung von Patienten durch Ärzte” stattfinde, die dafür “monatliche Zahlungen erhalten und Ausstellung der erforderlichen Atteste zur Begründung für die Pflegebedürftigkeit” vornähmen. Die Ermittler schreiben außerdem, die meist osteuropäischen Pflegebanden würden gezielt ältere Menschen ansprechen.

Wie das aussieht, zeigen Dokumente der Berliner Strafermittlungsbehörden, die uns vorliegen. Zum Beispiel dieser Ausriss aus einer Strafanzeige beim LKA Berlin:

Die ältere Dame gibt bei ihrem Verhör an, dass der Pflegedienst sie gezielt vor der Ausländerbehörde als Kundin angeworben habe. Später habe ihr der Pflegedienst gedroht, an ihrer Abschiebung mitwirken zu wollen.

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Unsere Stories: #Pflegebetrug #Terror #OSS

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Unsere Stories: #Pflegebetrug #Terror #OSS

Seit längerem schon beschäftigt deutsche Sicherheitsbehörden der Verdacht, dass der Kreml womöglich rechtspopulistische Gruppierungen hierzulande unterstützt, um gezielt Stimmung zu machen gegen die Regierung Merkel. In den Reihen der AfD etwa ist eine gewisse Nähe zu Russland in der Tat nicht wegzudiskutieren: Fraktionschef Alexander Gauland etwa reist gern einmal gen Osten, wie auch der Chef der Parteijugend Markus Frohnmaier, dessen Treiben und dessen Netzwerke Dirk Banse, Michael Ginsburg, Uwe Müller und Lars-Marten Nagel genauer unter die Lupe nahmen. Nach wochenlangen Recherchen in seinem Umfeld und einem längeren Treffen mit dem Nachwuchspolitiker entstand das Bild eines 25-Jährigen, der dubiose Kontakte pflegt, Multi-Kulti hasst und bei seinen Auftritten offenkundig den richtigen Ton für seine Klientel trifft. Das facettenreiche Porträt über die große Nachwuchshoffnung, die auch beim Bundesparteitag der AfD am kommenden Wochenende eine gewichtige Rolle spielen wird, lesen Sie hier.

Der ehemalige Oberbürgermeister Kölns, Fritz Schramma, hatte einst eine gute Idee, wie Integration wirklich funktionieren könnte: Mit voller Unterstützung seiner Stadt sollte die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (Ditib) im Herzen der Rheinmetropole ihre Zentralmoschee bauen dürfen – die größte Moschee in Deutschland sollte es werden, und sie sollte ein Signal an alle Multi-Kulti-Hasser sein, dass der Islam zu Köln gehört. Tim Röhn, der selbst in der Nachbarschaft wohnt, machte sich auf den Weg und spürte der Frage nach, was aus dem ambitionierten Projekt geworden ist. Das düstere Ergebnis seiner Recherchen: Der Traum einer gleichberechtigten Integration im Einklang mit der Türkei ist ausgeträumt.

Spätestens seit den Versäumnissen rund um den NSU sind deutsche Verfassungsschützer besonders alert, wenn es darum geht, potenziell terroristische Gruppierungen so früh wie möglich aufzuspüren. Erst vor wenigen Tagen griffen GSG-9-Beamte wegen des Verdachts auf Bildung einer rechtsterroristischen Vereinigung im sächsischen Freital zu; vor gut einem Jahr hatte man die Rädelsführer der zunächst nur virtuell agierenden Truppe namens “Oldschool Society” festgenommen. Auf Basis interner Ermittlungspapiere gab Florian Flade in der “Welt am Sonntag” Einblick in die Kommunikationsstrukturen und Organisationsgrad der Gruppe, von der sich dieser Tage vier Mitglieder vor Gericht verantworten müssen.

Nicht umsonst sprach SPD-Gesundheitsmagazin Karl Lauterbach angesichts der jüngsten Enthüllung von Dirk Banse und Anette Dowideit von “einem der größten Skandale im Gesundheitssystem” (insofern sich der Verdacht bestätigen sollte): Die beiden Kollegen hatten in der Tat Beunruhigendes herausgefunden: Demnach versuchen nicht mehr nur Pflegepatienten, Geld von den Kassen abzuzweigen, indem sie sich als pflegebedürftiger ausgeben als sie eigentlich sind. Auch Angehörige von Schwerstkranken bereichern sich offenbar zusehends auf ähnliche Weise und sind mit der Unterstützung falscher Pflegedienste offenbar sogar bereit, Leib und Leben ihrer Schutzbefohlenen zu riskieren – und zwar im großen Stil. Angesichts der Tatsache, dass sogar das Bundeskriminalamt (BKA) mit dieser Sache befasst ist, verwundert es schon, dass Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe zunächst ganz überrascht war von den Vorfällen. Was er nun plant, um den Kriminellen künftig das Leben schwer zu machen, verriet er Dowideit und Claudia Kade im Interview für die “Welt”.  Warum Abrechnungsbetrug und Billigpflege für Patienten tödlich sein können, erklärte Dowideit in einem Leitartikel zum Thema.

Angesichts des Rekordniveaus bei Wohnungseinbrüchen fristet das Thema Benzinklau ein Schattendasein – zu Unrecht, wie Martin Lutz herausfand. Seinem Bericht zufolge weist die noch nicht veröffentlichte Polizeistatistik für das Jahr 2015 Zehntausende Fälle aus. Die interessante Begründung dafür, dass die Spritdiebe dennoch etwas weniger zuschlugen als im Vorjahr, erfahren Sie hier.

Und hier in Kürze noch mehr Lesetipps:

Manuel Bewarder, Florian Flade und Lars-Marten Nagel ergatterten das erste Interview mit dem frisch gebackenen Chef der Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), Arne Schönbohm – und schafften es damit gleich in die Tagesschau.

Martin Lutz berichtet, warum die Internetkriminalität im vergangenen Jahr nach offziellen Zahlen rückläufig war und den Behörden dennoch zunehmend große Sorgen bereitet.

Marcel Leubecher und Annelie Naumann über das Drama mit jungen Flüchtlingen, die ohne Begleitung Erwachsener in Deutschland sind und die Verantwortlichen vor große Probleme stellen.

Viel Spaß bei der Lektüre und viele Grüße,

Ileana Grabitz

 

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Der Tag, an dem ich ein Pflegefall war

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Der Tag, an dem ich ein Pflegefall war

Von fremden Menschen gewaschen, gefüttert, auf die Toilette gehoben: Wie fühlt sich das an? Unsere Reporterin hat sich für ihr Buch „Endstation Altenheim“ einen Tag lang selbst pflegen lassen.

Es ist noch früh am Morgen, nebenan klappern im Speisesaal der Station “Agnes” die anderen Pfleger mit dem Frühstücksgeschirr. Ich muss aber vor dem Frühstück erst gewaschen werden. Pflegeschüler Mustafa E. hat mich in meinem Rollstuhl ins barrierefreie Stationsbadezimmer geschoben. Zahnbürste, Waschlappen und Handtuch liegen für meine Grundpflege bereit. “Müssen Sie zur Toilette?”, fragt er. Ich nicke. Er sagt: “Dann hebe ich Sie drauf.”

Auf meinen erschrockenen Gesichtsausdruck hin sagt er, es sei mir unmöglich, mich allein vom Rollstuhl auf den Toilettensitz zu hieven, wäre ich tatsächlich halbseitig gelähmt – so, wie ich es heute einen Tag lang vorgebe. Also hänge ich mich mit meinem funktionierenden Arm um seinen Hals und stütze mich mit dem gesunden Bein ab, während er mir Hose und Unterhose herunterzieht. Mustafa scheint selbst peinlich berührt. “Ich gucke weg, keine Angst, ich gucke nicht”, wiederholt er immer wieder, während er den Kopf wegdreht. Dann setzt er mich ab, gibt mir eine rote Klingelschnur in die Hand und sagt, ich solle daran ziehen, sobald ich fertig sei. Sofort nachdem er den Raum verlassen hat, habe ich das nächste Problem. Der Toilettenpapierhalter ist auf der linken Seite der Toilette befestigt. Während ich versuche, mit dem rechten Arm nach dem Papier zu angeln, komme ich aus dem Gleichgewicht. Wäre ich tatsächlich gelähmt, läge ich wohl jetzt auf dem Boden. Ich ziehe die Klingel.

Erst 20 Minuten zuvor bin ich ins Altenheim eingezogen, als Pflegefall für einen Tag. Um halb acht heute Morgen hat mich der Pflegedienstleiter des katholischen Heims in der Kölner Südstadt in Empfang genommen und mit mir durchgesprochen, welche “Einschränkungen” ich für den heutigen Tag haben werde: Ich werde vortäuschen, halbseitig gelähmt zu sein, mein linkes Bein und den Arm nicht bewegen zu können – und sitze daher im Rollstuhl. Außerdem werde ich nicht sprechen können.

Wie lebt es sich in deutschen Altenheimen? Wie viel von seiner Menschenwürde muss jemand, der sich im Heim pflegen lässt, aufgeben? In Köln gibt es die Möglichkeit, das zumindest teilweise nachempfinden zu können: eben im Seniorenzentrum Herz Jesu der Franziska Schervier Altenhilfe. Beim dortigen Projekt “Schattenmann/Schattenfrau” schlüpft der Teilnehmer für ein paar Stunden in die Rolle eines Pflegebedürftigen. Bisher war die Teilnahme zukünftigen Pflegern vorbehalten, die durch den Perspektivwechsel testen wollten, ob der Beruf Altenpfleger tatsächlich das Richtige für sie sei. Heimleiter Wolfgang Dyck ließ sich überreden, für das Buch “Endstation Altenheim” zum ersten Mal eine Journalistin zum Selbstversuch in die Einrichtung zu lassen.

Mustafa kommt wieder und erklärt, er werde mir das Gesicht waschen und die Zähne putzen. Beim Zähneputzen beginne ich, mit meiner beweglichen Hand zu putzen, lasse mir dann aber helfen. Mustafa reibt kräftig mit der Bürste über meine Kauflächen. “Nicht so fest drücken beim Putzen!”, denke ich, bei meinem empfindlichen Zahnschmelz! Sagen kann ich nichts, schließlich habe ich eine Sprachstörung. Ich schiebe den Gedanken weg, wie oft sich wohl ein echter Heimbewohner mit solch kleinen Dingen arrangiert, die ihn stören – weil es ihm zu aufwendig, zu kompliziert oder sogar unmöglich ist, sich mitzuteilen.

Im Speisesaal sitzen mittlerweile die ersten Bewohner am Tisch und kauen wortlos an ihren Brötchen. Ich lächle sie vorsichtig an. Mustafa sagt: “Das ist eine neue Bewohnerin. Sie schaut, ob es ihr hier gefällt.” Ich schreibe auf einen Zettel, was ich mir zum Frühstück wünsche: Brötchen mit Käse, Kaffee mit Milch. Mustafa bringt mir ein Kännchen dünnen Kaffee, verschwindet anschließend in der Heimküche.

Fünf Minuten vergehen. Im Raum ist es völlig still. Man hört nur das Klappern des Geschirrs. Keiner der anderen Bewohner spricht mich an, dafür mustern mich manche durchdringend. Ob es wohl auch echten Neuankömmlingen im Heim so geht? Mustafa kommt mit Brötchen, Butter und Käse zurück. Er muss mir das Brötchen halten, damit ich es schmieren kann. Bei jedem Handgriff denke ich “Danke”, sagen kann ich es ja nicht, bisher bestimmt schon 20 Mal an diesem Morgen. Es nervt mich schon selbst. Ich frage mich, ob man sich das irgendwann abgewöhnt.

Das Käsebrötchen schmeckt pappig und trocken, doch ich will nicht zu viel dazu trinken, da ich keine Lust habe, bald schon wieder von Mustafa auf die Toilette gehoben werden zu müssen. Ich will dem Pfleger nicht zu viel Arbeit machen, und es ist mir unangenehm. Vermutlich plagen sich gerade in diesem Moment überall auf der Welt Pflegebedürftige mit genau denselben Gedanken. Ein alter Mensch sollte laut Expertenempfehlung 1,5 Liter am Tag trinken. Jemandem, der für jeden Toilettengang um Hilfe klingeln muss oder sogar Hilfe braucht, um ein Glas zu heben, muss das unvorstellbar viel erscheinen.

Mustafa holt mich für eine Tour durchs Haus ab. Er versichert, am ersten Tag bekomme jeder Bewohner so viel Zuwendung. Wir fahren mit dem Aufzug in die Demenzstation. Schon auf dem Flur stinkt es nach Urin. Der Speiseraum der Station ist voll, wir können uns mit dem Rollstuhl kaum den Weg bahnen. Eine Bewohnerin beschwert sich laut, ich verstehe nicht, was sie sagt. Die anderen sitzen geistesabwesend auf ihrem Stuhl, manche wippen mit dem Oberkörper leicht vor und zurück. Auf dem Flur sitzt eine alte Dame auf einem Sofa und streichelt einen Plüschhasen. Mustafa erzählt, er habe schon mehrere Wochen auf dieser Station verbracht und auch schon auf Demenzstationen anderer Pflegeheime gearbeitet.

Ein männlicher Bewohner habe ihn beim Toilettengang aufgefordert, seinen Penis anzufassen, was ihn als unerfahrenen Auszubildenden völlig schockiert habe – andere Pfleger hätten ihm später erzählt, dass solche sexuelle Belästigung nicht ungewöhnlich sei. Es gebe häufiger männliche Bewohner, die vor den Pflegern oder anderen Bewohnern masturbieren würden. Er erzählt auch von einer Frau, die regelmäßig ihre Exkremente im Zimmer verteilte, bis in die Schubladen hinein. “Wenn man morgens zum Dienst kommt und erst mal das ganze Zimmer sauber putzen muss, macht das keinen großen Spaß”, sagt er.

Ich bin erleichtert, als der Pflegeschüler sagt, wir müssten jetzt weiter zum Gymnastikkurs. Rund 15 Bewohner sitzen schon im Stuhlkreis, dazu zwei Mitarbeiter des Dienstes, die einmal pro Woche mit einem Einkaufswagen voller bunter Gummibälle und Schwimmschlangen ihre Runde durchs Heim drehen. Mustafa stellt mich im Kreis ab, viel zu nah am nächsten Bewohner, wie ich finde. Ich versuche ein Lächeln in die Runde.

Es werden bunte Gummihanteln an die Stuhlrunde verteilt, “Erdnüsschen” nennt sie der Kursleiter. Jeder bekommt zwei Stück – ich, da ich meine linke Hand nicht bewegen kann, nur eine. Schon wieder eine unangenehme Situation, in der ich das Gefühl habe aufzufallen. Die Teilnehmer sollen die Hanteln drücken, um die Handgelenke zu trainieren, sollen sie in Kreisbewegungen über dem Kopf heben. Am Schluss dürfen alle ihre Bälle zurück in den Korb werfen. Dann verteilt der Kursleiter Gläser und schenkt Sprudelwasser aus. Mehrere der Senioren winken ab: “Ich hab keinen Durst.” Der Kursleiter lässt sich aber nicht abwimmeln: “Ach bitte, tun Sie mir den Gefallen!”

Das Schattenmann-Projekt, hatte mir der Heimleiter in einem Vorgespräch erklärt, diene dazu, die eigene Rolle als Pfleger zu reflektieren. Dyck, ein Diplom-Theologe, wirkte auch in einer Kommission mit, die vor einigen Jahren ethische Grundsätze für die Altenpflege formulierte und für das Bundesfamilienministerium in einer “Pflege-Charta” zusammenfasste. Zu ihrem Inhalt gehört etwa das Recht auf Wahrung und Schutz der Intimsphäre: Pflegekräfte sollen nicht ins Zimmer kommen, ohne anzuklopfen; Pfleger, die Heimbewohner duschen und dabei nackt sehen, sollten möglichst selten wechseln.

Endlich ist Mustafa wieder da. In einer halben Stunde ist es Zeit fürs Mittagessen. Schon wieder Essen. Vorher kann er mich aber immerhin noch eine Runde durch den vor dem Seniorenstift gelegenen Park fahren – ein Luxus, der im Heimalltag wohl nicht möglich wäre. Während er mich schiebt, erzählt er von seiner Pflegeschule und den Mitschülern. Eine, sagt er, müsse in ihrem Caritas-Heim manchmal vier Wochen am Stück durcharbeiten. Andere seien von Beginn der Ausbildung an wie examinierte Altenpfleger eingesetzt worden, mit zehn oder mehr Patienten, die sie jeden Morgen waschen und anziehen müssten, ohne Anleitung. Ich zeige Mustafa, dass ich zurückmöchte. Die mitleidigen, zum Teil skeptischen Blicke der Spaziergänger sind mir unangenehm.

Zum Mittagessen gibt es Nudelauflauf mit Thunfisch oder Leberkäse. Ich zeige auf den Thunfischauflauf. An meinem Tisch sitzen nun zwei Bewohner, die beim Frühstück noch nicht da waren, eine Frau und ein Mann. Der Mann hat ein riesiges Lätzchen umgelegt, es sieht entwürdigend aus, finde ich. Mustafa fragt: “Möchten Sie auch einen Kleiderschutz?” Ich schüttle entschieden den Kopf. Wieder schweigen alle. Die Frau, die mir gegenübersitzt, hat einen schleimigen Husten. Weil niemand spricht, klingt es umso lauter. Mir wird schlecht. Ich zwinge mich, den Auflauf trotzdem weiterzuessen. Die anderen Bewohner kauen ungerührt weiter. Ist das eine Frage des Alters? Gewöhnt man sich an so etwas?

Nach dem Mittagessen bringt mich Mustafa aufs Zimmer, es ist Zeit für den Mittagsschlaf. Ich beziehe ein Doppelzimmer, in dem zurzeit beide Betten frei sind. Weil niemand hier wohnt, sieht es aus wie in einem Krankenhauszimmer. Draußen scheint die Sonne, ich schaue sehnsüchtig aus dem Fenster. Schlafen kann ich nicht.

Nach dem Mittagsschlaf und dem Kaffeetrinken – auf Wunsch gibt es für die Bewohner auch Plätzchen oder Kuchen – wird meine “Entlassung” vorbereitet. Mustafa lässt es sich nicht nehmen, mich im Rollstuhl noch bis an die Eingangstür zu fahren. Als ich aus dem Rollstuhl steige, fühlen meine Beine und mein linker Arm sich steif an. Erleichtert hinaus in die Sonne.

Das Buch von Anette Dowideit, “Endstation Altenheim – Alltag und Missstände in der deutschen Pflege”, erscheint am 12. September im Redline Verlag, München. 240 Seiten, 19,99 € (D), ISBN 978-3-86881-344-9

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Unsere Reporter erzählen im Podcast über ihre Recherchen

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Unsere Reporter erzählen im Podcast über ihre Recherchen

Ganz am Ende steht irgendwann ein Artikel. Eine kleine exklusive News, eine lange Reportage, nah dran am Menschen – oder aber eine Recherche, die auf Missstände und Machtmissbrauch hinweist. Die Ergebnisse kann man nachlesen bei welt.de oder in unseren Zeitungen.

Eine ganz andere Spannung erzeugen die Geschichten hinter den Geschichten. Wie läuft so eine Recherche eigentlich ab? Welche Schritte unternimmt man? Und: Wie geht man eigentlich als Mensch mit heiklen Details und schrecklichen Schicksalen um?

Über genau solche Fragen unterhält sich Carla Baum in dem Podcast WELT Insider seit ein paar Monaten immer wieder mit Redakteuren aus den verschiedenen Ressorts. Auch mehrere Mitglieder unseres Teams haben bereits mit ihr gesprochen. Hier eine Übersicht der bisherigen Gespräche mit Christine Kensche, Tina Kaiser, Christina Brause, Florian Flade, Anette Dowideit und Tim Röhn.

Ali B., Hussein K., Silvio S. – Kriminalfälle, die Deutschland bewegen

Wenn Christine Kensche eine Dienstreise unternimmt, dann meistens zu Orten, an denen etwas Schreckliches passiert ist. Sie ist unter anderem Kriminalreporterin – und hat in den vergangenen Monaten über all die Verbrechen berichtet, die das Land bewegt haben, zuletzt über die Vergewaltigung und Ermordung der 14-jährigen Susanna in Wiesbaden.

Was macht es mit einem, im Berufsalltag ständig mit solchen Grausamkeiten konfrontiert zu sein? Und was, wenn Kriminalfälle politische Dimensionen erreichen – wie der Fall Susanna? Das kann man hier nachhören.

Unterwegs im Berliner Nachtleben – eine besondere Recherche

Andere Städte haben Banken, Fabriken oder einen Großflughafen. Berlin hat nichts dergleichen. Aber es hat das Berghain – und viele andere Clubs, die der Stadt in den letzten Jahrzehnten zu internationaler Bekannt- und Beliebtheit verholfen haben.

Tina Kaiser und Christina Brause haben sich einige Nächte unter die Feierwütigen gemischt. Sie wollten wissen: Was macht Berlins Clublandschaft so besonders? Und ist sie auch ein ernst zu nehmender Wirtschaftsfaktor für die immer noch recht arme Stadt? Darüber spricht Tina Kaiser hier.

Einem „IS-Ausreiser“ auf der Spur

Rund 1000 deutsche Dschihadisten sind bisher zur Terrormiliz IS nach Syrien oder in den Irak ausgereist. Ungefähr ein Drittel ist wieder zurück, mehr als 150 gelten als tot – und einige von ihnen, wie das „IS-Mädchen“ Linda W., sitzen im Irak in Gefangenschaft.

Der Fall des Deutsch-Franzosen Frederik C. ist ein Rätsel. Mitte der 2000er Jahre konvertierte er als Jugendlicher zum Islam, 2013 reiste er nach Syrien zum IS, wo er es zu einiger Bekanntheit brachte. Seine Spur verliert sich im Herbst 2017. Die beiden Investigativjournalisten Christina Brause und Florian Flade haben in den vergangenen Monaten versucht, Frederik C. näher zu kommen. Das Gespräch dazu gibt es hier.

Pflege in der Krise – Einblicke in ein krankes System

Vernachlässigte Senioren, unterirdische Bezahlung: Die Pflege in Deutschland steht in der Kritik. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) verspricht 8000 neue Stellen – aus den Pflegeverbänden heisst es, man habe wohl am Ende eine Null vergessen.

WELT-Investigativjournalistin Anette Dowideit hat 2012 ein Buch über Missstände in der Pflege geschrieben. Sechs Jahre später ist das Thema wieder – oder immer noch – aktuell. Sie spricht über die aktuelle Pflege-Debatte und ihre Recherchen zur “Pflege-Mafia”, die mit erfundenen Kranken und Alten jedes Jahr Millionen von Steuergeldern einsackt.

Mafia-Mord an einem Journalisten – der Fall Ján Kuciak

Am 25. Februar wurden der slowakische Journalist Ján Kuciak und seine Verlobte Martina Kusnirova in ihrem Haus in der Westslowakei tot aufgefunden. Sie wurden regelrecht hingerichtet, mit Schüssen in Kopf und Brust.

Schnell wurde eine Verbindung gezogen zwischen dem Tod Kuciaks und seinen journalistischen Recherchen. Er schrieb über die Verstrickung slowakischer Unternehmer und Politiker mit der süditalienischen Mafia ´Ndrangheta.

 Tim Röhn beschäftigte sich intensiv mit dem Fall und ist deshalb in den vergangenen Wochen immer wieder in die Slowakei gereist. Ob er Angst hat, sich selbst in Gefahr zu begeben und wie es ist, der trauernden Familie des Journalisten gegenüberzusitzen – das erzählt er in dieser Folge.

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